Mögliche neue Anwendung von millionenfach erprobten Arzneimitteln

Millionenfach in anderer Verwendungsform benützte Medikamente könnten bei schweren Covid-19-Erkrankungen von Männern und bei Prostatakrebs eine positive Wirkung haben. Der bei hormonabhängigen Brustkrebs eingesetzte Aromatasehemmer Letrozol und das Diabetes-Basistherapeutikum Metformin sind zwei solcher Substanzen, haben jetzt internationale Wissenschaftlerteams mit Beteiligung aus Wien belegt.

red/Agenturen

Eine Meta-Analyse von 90 wissenschaftlichen Publikationen, also die erneute Aufarbeitung einzelner Studien im Verbund, hat Männern mit Covid-19 schlechte Karten gegeben. Im Vergleich zu Frauen kommen sie um den Faktor 2,84 öfter wegen Covid-19 auf eine Intensivstation. Das Mortalitätsrisiko der Männer ist um 39 Prozent höher.

In Cell Reports Medicine hat jetzt ein internationales Wissenschaftlerteam mit Teilnahme von Experten aus Österreich und Italien dazu eine mögliche Ursache beschrieben: Eine Enzymvariante - Cytochrom P19A1(CYP19A1) - ist offenbar am häufigeren schweren Verlauf von Covid-19-Erkrankungen bei Männern mitverantwortlich.

Letrozol bei Covid-19?

Stephanie Stanelle-Bertram vom Department für Virus-Zoonosen am Leibniz Institut für Virologie in Hamburg und ihre Co-Autoren, unter ihnen Nina Schützenmeister vom Department für Pharmazeutische Wissenschaften der Universität Wien, haben mittels Künstlicher Intelligenz die Protein-Expressionsdaten von 2.866 Covid-19-Patient:innen analysiert. Hinzu kamen die Daten von 86 Lungengewebsproben von an Covid-19 Verstorbenen. Was sich eindeutig belegen ließ: Zum Zeitpunkt ihres Todes wiesen Männer mit Covid-19 deutlich höhere CYP19A1-Werte in der Lunge auf als Frauen. In einem Modell mit Hamstern zeigte sich, dass bei männlichen Tieren durch Covid-19 eine wesentlich höhere Produktion an CYP19A1 hervorgerufen wurde als bei weiblichen Hamstern.

Cytochrom-Enzyme sind beispielsweise am Abbau vieler Arzneimittel ursächlich beteiligt. CYP19A1 vermittelt die körpereigene Produktion eines Aromatase-Enzyms, das männliche Geschlechtshormone (Androgene) in Östrogene umwandelt. Eine vermehrte CYP19A1-Produktion erhöht die körpereigene Produktion von weiblichen Geschlechtshormonen. Östrogene sind der treibende Faktor der Mehrzahl der Brustkrebserkrankungen von Frauen.

Die Hemmung von CYP19A1 durch Medikamente wird bereits seit Jahrzehnten millionenfach in Form von Aromatase-Hemmern in der Behandlung von hormonabhängigen Brustkrebs eingesetzt. Genau hier liegt ein möglicher Ansatzpunkt für Aromatase-Blocker, zum Beispiel eine Substanz wie Letrozol. Die Wissenschaftler: „Die Blockade von CYP19A1 durch das für die klinische Behandlung von Patienten zugelassene Letrozol könnte eine neue therapeutische Strategie für ein individualisiertes Management und eine individualisierte Therapie (gegen Covid-19 bei Männern; Anm.) darstellen.“

Metformin gegen Prostatakrebs?

Auch in der zweiten Studie mit Jan Pencik (Klinisches Institut für Pathologie der MedUni Wien/AKH) als Erstautor aus einem internationalem Wissenschaftlerteam geht es im Endeffekt um ein Ural-Arzneimittel als potenzielle neue Therapieform. Das Thema ist in diesem Fall metastasierender Prostatakrebs. „Prostatakarzinome sind eine der hauptsächlichen Ursachen für Krebstodesfälle bei Männern weltweit“, schrieben die Wissenschaftler in „Molecular Cancer“.

Von einem Prostatakarzinom Betroffene sterben vor allem an den Metastasen, die sich in der Spätphase der Erkrankung bilden. Das Wissenschaftlerteam hat aus Flüssigbiopsien (Liquid Biopsy) und der Analyse der Gensubstanz von Krebszellen aus dem Blut von Patienten belegt, dass es bei ihnen oft zu einem Verlust von Geninformationen (PTEN und STAT3) kommt, was im Endeffekt die Bildung von Tochtergeschwülsten vorantreiben dürfte.

In diesen Signalweg scheint offenbar das Uralt-Medikament Metformin zur Behandlung von Typ-2-Diabetes einzugreifen. Jedenfalls, bei hormonabhängigen Prostatakarzinomen könnte die Substanz, so die Wissenschaftler, zu einem Teil einer Kombinationstherapie werden.

Der Beweis für mögliche zusätzliche Anwendungsgebiete von alten und längst für andere Zwecke zugelassene und verwendete Arzneimittel dürfte in Zukunft noch wichtiger werden. Die Medizin bzw. die Pharmaindustrie „sitzen“ auf einem Portefeuille von Millionen Wirkstoffen, deren Charakteristika sehr gut bekannt und wissenschaftlich belegt sind. Wirken sie auch in anderen Anwendungsgebieten als ursprünglich zugelassen, erleichtert das die schnelle Entwicklung „neuer“ Therapieformen, weil man sich langwierige und teure Vorarbeit ersparen kann. Die EU will im Zuge der zukünftigen Pharmagesetzgebung solche Projekte besonders unterstützen.

Medikament
Millionenfach erprobt, nun mit möglicherweise neuer Wirksamkeit auf völlig anderen Anwendungsgebieten.
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