Psychologin in griechischem Flüchtlingslager: „Viele Kinder wollen nicht mehr leben“
Von Albträumen bis Suizidversuchen: Das Leid der Kinder, die nach dem Brand im griechischen Flüchtlingslager Moria in dem Übergangslager Kara Tepe leben, kennt keine Grenzen. „Wenn ich den Kindern eine Diagnose stellen würde, würde ich ihnen die 'Diagnose Moria' geben, denn diese Kinder würden diese Symptome nicht zeigen, wenn sie nicht gezwungen wären, in Moria zu leben“, sagt die norwegische Kinderpsychologin Katrin Glatz-Brubakk von „Ärzte ohne Grenzen“ kürzlich in einem Pressebriefing.
Die anhaltend schlechten Bedingungen in den Flüchtlingslagern auf der griechischen Insel Lesbos machen Kinder krank, warnt die Leiterin des psychologischen Programms von Ärzte ohne Grenzen (MSF) auf Lesbos. Die Unsicherheit und chronische Angst führe zu Panikattacken, Albträumen und schweren Depressionen bei vielen Kinder.
Lange Warteliste, enormer Betreuungsbedarf
„Viele dieser Kinder geben die Hoffnung auf, dass sie je einen Tag ohne Angst erleben werden.“ Das führe dazu, „dass achtjährige Kinder versuchen, sich umzubringen, weil sie es einfach unter diesen Bedingungen nicht mehr aushalten“. Und das seien Kinder, die vorher keine psychischen Probleme gehabt hätten, betont Glatz-Brubakk. 90 Prozent der Kinder hätten diese Probleme erst entwickelt, seit sie auf Lesbos seien. Der Bedarf an psychologischer Betreuung sei enorm, weshalb nicht alle Kinder mit Bedarf betreut werden könnten, sondern es eine lange Warteliste gebe. Besonders schlimm sei die Situation in dem provisorischen Camp auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz Kara Tepe, das nach dem Brand in Europas bis dahin größtem Flüchtlingslager Moria errichtet wurde.
Die Psychologin arbeitet seit vier Jahren im Rahmen von „Ärzte ohne Grenzen“ regelmäßig auf Lesbos. Sie beobachte immer mehr Kinder mit schweren Symptomen von Depression und Rückzug: Manche würden das Zelt nichtmehr verlassen, sie hätten aufgehört zu spielen oder können sich nicht mehr ohne Unterstützung bewegen. Manche Kinder würden an ihren Haaren ziehen, ihren Kopf gegen Boden oder Wand schlagen, anfangen sich selbst zu beissen bis sie bluten oder hätten Panikattacken. Manche Kinder hätten seit acht Monaten kein einziges Wort gesprochen oder müssten gefüttert werden. „Kinder erzählen mir, sie essen und trinken so wenig wie möglich, damit sie weniger oft auf die Toilette müssen.“ Denn die chemischen Toiletten im Camp seien „kein netter Ort“ und würden bei starkem Wind umfallen.
Corona-Restriktionen verschlimmern die Lage
Das Camp sei wie ein „Freiluftgefängnis”, beschreibt Glatz-Brubakk, da die Kinder wegen Coronarestriktionen das Lager nur sehr eingeschränkt verlassen können. Das Camp selbst sei aber kein sicherer Ort. Immer wieder komme es zu Schlägereien, Vergewaltigungen, Missbrauch und Diebstählen.
Für die Kinder gebe es derzeit wegen der Corona-Beschränkungen überhaupt nichts zu tun. Vor dem Lockdown hätten einige Organisationen einige wenige Aktivitäten - wie Sprachunterricht - angeboten, das sei aber derzeit alles nicht möglich. Die Kinder dürften das Lager seit über zwei Monaten nicht verlassen. Außerhalb des eigenen Zelts gebe es auch keine Räumlichkeiten, wo man sich zurückziehen oder aufwärmen könne, auch nicht, wenn das Zelt wegen der derzeit häufigen Regenfälle überflutet werde.
Viele Kinder sind traumatisiert
Für jene Kinder, die bereits vor ihrer Ankunft in Griechenland traumatisiert worden seien, würden die Traumata durch die herrschenden Bedingungen verstärkt. „Ein traumatisiertes Kind braucht Stabilität, Routine und ein Gefühl der Geborgenheit und all das gibt es nicht im Lager. Sie wissen nicht, wie der morgige Tag aussehen wird, sie haben keinen Unterricht und fühlen sich durchgehend unsicher“, so die Psychologin. Es gebe Konflikte im Lager und die Kinder würden merken, dass sich die Eltern Sorgen machen. „Aber auch bei Kindern, die keine Traumaerfahrung haben, sehen wir, dass sie durch diese Bedingungen erkranken.“
Viele Kinder seien nun zudem wegen des Brands, der im September das Flüchtlingslager Moria zerstörte, traumatisiert. Viele Kinder würden schlafwandeln, weil sie damals wegen des Feuers geweckt wurden und weglaufen musste, so Glatz-Brubakk. „Weil manche Kinder so oft im Schlaf ins nahegelegene Wasser gelaufen sind, haben manche Eltern angefangen, sie in der Nacht am Handgelenk festzubinden.“
Kinderbetreuungsstätte besser als nichts, aber keine Lösung des Problems
Zur geplanten Errichtung einer von der Bundesregierung finanzierten Tagesbetreuungsstätte des SOS-Kinderdorf meinte die Kinderpsychologin, es sei natürlich zu begrüßen, wenn es eine Kinderbetreuungsstätte mit qualifiziertem Personal geben würde. „Aber egal was wir hier machen, solange die Bedingungen so sind, wie sind, ist das ein bisschen wie ein Pflaster auf eine Brandwunde zu setzen, während sie noch im Feuer sitzen müssen, aber natürlich ist es besser als gar nichts“.
Zu Weihnachten hatte die griechische Regierung Grünes Licht für die Errichtung gegeben, laut SOS-Kinderdorf laufen die Gespräche über einen konkreten Starttermin derzeit „sehr intensiv“. Anfang der Woche erteilten die griechischen Behörden auch die Genehmigung für den Zugang der SOS-Kinderdorf-Experten in das Camp. Diese könnten nun ihre Arbeit aufnehmen können, „um im ersten Schritt mit den Familien und Kindern in Kontakt zu treten“ und die dringendsten Bedürfnisse zu erheben, erklärte die NGO. „Wir stehen in den Startlöchern, aber es braucht doch noch einige Schleifen mit den Behörden vor Ort“, sagte Geschäftsführerin Elisabeth Hauser kürzlich zur APA. In einem ersten Schritt ist geplant, drei Container als Start für die Kinderbetreuungseinrichtung aufzustellen. Man sei aber durchaus „bereit zu wachsen“, so Hauser.