Geriatrie
Geriatrie

Mythos oder Wahrheit: Pflegenotstand in Österreich?

Knapp vier Milliarden Euro werden jährlich für die Alterspflege ausgegeben, davon 2,4 Milliarden Euro aus Mitteln der öffentlichen Hand. Bis zum Jahr 2030 werden sich die Ausgaben mehr als verdreifachen, konkret um 322 Prozent. Im Jahr 2030 werden 630.000 Österreicher mehr als 80 Jahre alt sein.

red

Ein Großteil dieser Menschen wird ganz- oder teilpflegebedürftig, oder zumindest in seiner Mobilität massiv eingeschränkt, sein. Vor diesem Hintergrund startet am 27. März 2019 der von der Wiener Ärztekammer organisierte Erste Österreichische Geriatriegipfel. Experten werden dabei vor allem drei Fragen nachgehen: „Leben im Alter - Wo liegen die ethischen, technischen und medizinischen Grenzen?“, „Alterspflege daheim, so lange es geht - Wo sind die Pfleger und übernehmen die Roboter?“ und als dritten Schwerpunkt „Die Finanzierung der Altersversorgung - Brauchen wir eine Pflegeversicherung und wie soll die aussehen?“

Österreichweit stehen derzeit etwas mehr als 75.000 Pflegeplätze in Altersheimen zur Verfügung, mehr als 150.000 Pflegebedürftige werden zu Hause betreut, zumeist von Angehörigen und mobilen Pflegeservices. In der Realität dürften es aber mehr als 200.000 sein.

In etwa 25.000 Personen nehmen eine 24-Stunden-Hilfe in Anspruch, die durch das Pflegegeld bei Weitem nicht abgedeckt wird. Sie müssen die Kosten aus eigener Tasche tragen oder via Pflegezusatzversicherung decken. Mehr als 80 Prozent der 24-Stunden-Pfleger kommen aus den östlichen Nachbarländern, werden zumeist über Agenturen vermittelt und weisen oft nicht die notwendigen Qualifikationen aus.

Gerade bei der 24-Stunden-Hilfe und der häuslichen Pflege besteht großer Nachholbedarf. Es fehlen die Pflegekräfte sowie institutionelle mobile Services. Österreich ist noch immer ein klassisches „Krankenhausland“. Es gibt deutlich zu viele Akut- und zu wenige akutgeriatrische Betten beziehungsweise Rehabilitationseinrichtungen.

Kostenexplosion

Die Kosten für die medizinische Alterspflege werden weiter steigen – aufgrund der Fortschritte in der Medizin, aber auch aufgrund der längeren Lebenserwartung, die nicht unbedingt ident mit einer längeren gesunden Alterszeit ist. Neue chronische Krankheiten werden zu Massenphänomenen: Bis zum Jahr 2050 wird es in etwa 350.000 Demenzkranke in Österreich geben. Es fehlt an Erfahrung und Einrichtungen, um jetzt zu wissen, wie man gesellschafts- und sozialpolitisch damit umgeht.

Dazu kommen infrastrukturelle Herausforderungen: Alters- und pflegegerechte Wohnungen, adäquate öffentliche Verkehrsmittel, alternative Formen des Lebens im Verbund, wie etwa betreute Wohngemeinschaften sowie telemedizinische und webbasierte Pflegeeinrichtungen. Und es gibt zu wenig Personal. In Zeiten des gesellschaftlichen Wandels – Singles, zeitbegrenzte Partnerschaften, Patchworkfamilien, erhöhte Arbeitsmobilität – wird es auch immer weniger Angehörige geben, die ihre Eltern oder Verwandten pflegen. Damit aber werden die Grundpfeiler der Alternspflege erodieren.

Aus dem Budget werden die zukünftigen Erfordernisse jedenfalls kaum abgedeckt werden können – ohne Steuern zu erhöhen oder neue einzuführen. Deshalb denken Experten auch schon über unterschiedliche Modelle einer Pflegeversicherung oder kollektiven Pflegeversorgung nach. „Wir möchten mit diesem Gipfel und angesichts der Ankündigung der Bundesregierung, ein umfassendes Pflegepaket realisieren zu wollen, die großen Herausforderungen schon jetzt thematisieren, Öffentlichkeit und Politik sensibilisieren sowie das Thema Geriatrie, Alternsgesellschaft und Solidaritätsgesellschaft in allen Facetten diskutieren. Es geht mehr als nur um ausschließlich medizinische und therapeutische Fragen“, so Thomas Szekeres, Präsident der Wiener und der Österreichischen Ärztekammer.

Pflege
800 Betreuerinnen und Betreuer sind für den Verein „Caritas Rundum Zuhause betreut“ im Einsatz.
iStock galitskaya
 
© medinlive | 16.04.2024 | Link: https://www.medinlive.at/gesundheitspolitik/mythos-oder-wahrheit-pflegenotstand-oesterreich