1,5 Mio. Kinder nach UNICEF-Einschätzung traumatisiert
487 Kinder sind laut UNO-Kinderhilfswerks UNICEF im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine bisher getötet worden, 954 wurden verletzt. 3,3 Millionen Kinder in der Ukraine sind auf Hilfe angewiesen. 1,5 Millionen sind nach Einschätzung der UNICEF vom Krieg traumatisiert. „Was das mit Kinder macht, ist unvorstellbar“, sagte Christoph Jünger, Geschäftsführer von UNICEF Österreich, bei einer Pressekonferenz in Wien.
„365 Tage Krieg, Leid, Tränen, Verlust, Verlust der Normalität, Verlust der Kindheit, Verlust von Angehörigen, Gewalt“, so Jünger. Dramatisch seien vor allem die Angriffe auf zivile Infrastrukturen wie Krankenhäuser und Schulen. Seit Kriegsbeginn wurden 2.400 Schulen zerstört bzw. stark beschädigt. Die Schule und die Bildung hätten für Kinder eine gewissen Normalität bedeutet, die nun nicht mehr aufrecht zu erhalten ist. Aufgrund der vorangegangenen Pandemie und dem nun herrschenden Krieg würden laut UNICEF fünf Millionen Kinder und ihre Bildungsbiografie massiv beeinträchtigt sein. 1,4 Millionen Buben und Mädchen wurde durch UNICEF zumindest wieder ermöglicht, an der Bildung teilzunehmen, sagte Jünger. „Bildung ist die Währung der Zukunft.“
Weltweit sind 100 Millionen auf der Flucht, die Hälfte davon sind Kinder und Jugendliche. Mehr als acht Millionen sind Ukrainerinnen und Ukrainer. 32.000 Kinder, die alleine auf der Flucht waren, wurden mit Hilfe von UNICEF identifiziert und mit ihren Familien wieder vereint. Entlang der Fluchtrouten hat das Hilfswerk nach eigenen Angaben Anlaufstellen, sogenannte „Blue Dots“, eingerichtet, um Geflüchtete zu versorgen und bei bürokratischen Hürden zu vermitteln. Bisher wurden 1,2 Millionen Menschen dort betreut, betonte Jünger.
Zwei von drei ukrainischen Kindern sind nicht oder nur wenig in das Bildungssystem ihrer Gastländer integriert. Und das hat einen guten Grund, wie Nora Ramirez Castillo, die für Therapiekoordination zuständige Psychologin bei Wiener Betreuungszentrum Hemayat, ausführte. Bisher hatten die Geflüchteten die Hoffnung, bald wieder in ihr Land zurückzukehren. Deshalb wussten sie auch nicht, ob sie ihre Kinder lieber online in den ukrainischen Unterricht oder präsent in den österreichischen Unterricht schicken sollten. „Das Fuß fassen war schwierig“, sagte Ramirez Castillo.
„Kinder wollen wieder ein Stück weit Kind sein“
Doch Kinder bräuchten Normalität, Pausen vom Krieg, sagte die Psychologin. „Kinder wollen wieder ein Stück weit Kind sein. Sie brauchen Sicherheit und Stabilität und das ist auf der Flucht unmöglich.“ Um das Leben der männlichen Bezugspersonen wird gebangt und die weiblichen Bezugspersonen werden als völlig ohnmächtig erlebt. „Je nach Alter reagieren Kinder, die Vertreibung und Krieg erleben müssen, etwas anders“, sagte Ramirez Castillo. Kleine Kinder reagieren mit einer starken Verunsicherung, mit Ängstlichkeit, mit Klammern oder mit Bettnässen. Es gebe auch Kinder, die durch den Schock aufhören zu sprechen. Ältere Kinder zeigen Reaktionen, indem sie etwa Gefühle nicht mehr regulieren können, starke Ängste entwickeln, selbstverletzendes Verhalten, Wut oder Aggression an den Tag legen. Sie verstehen nicht, dass ihr Land angegriffen wird, dass so etwas in Europa passiert und es niemand verhindern kann.
„Jeder Andockort ist da wichtig“, sagte Ramirez Castillo. „Überall dort, wo ein Stück Sicherheit hergestellt werden kann“, meinte die Psychologin. „Mentale Gesundheit ist ein enormer Rückhalt für Kinder“, sagte auch James Elder, der Pressesprecher von UNICEF International, der sich gerade in der Ukraine aufhält. Die Grundprinzipien von UNICEF, das Handeln im Interesse der Kinder, dürfe nicht außer Acht gelassen werden.
Angesprochen auf die angebliche Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland, meinte Elder, dass die Datenlage unklar und nicht gesichert sei. In der Folge sollte dann in Zukunft präventiv agiert und aufgeklärt werden, meinte auch Jünger. Unter allen Umständen sollten Kinder und ihre Familien wieder zusammengeführt werden und dass es nicht passiert, dass Kinder und Jugendliche alleine auf der Flucht sind.
Kinder seien existenziell abhängig von Bezugspersonen, meinte Ramirez Castillo. Je kleiner ein Kind ist, desto stärker sei diese Abhängigkeit und desto eher gehe es auf solche Bindungen ein. Ohne auf den konkreten Fall der angeblichen Verschleppung einzugehen, meinte Ramirez Castillo: „Wenn sich Menschen dort als liebevolle Bindungspersonen anbieten, kann es durchaus sein, dass Kinder andocken.“