„Ambulantisierung“ gegen Spitalsprobleme in Österreich
Rund 16,5 Milliarden Euro an öffentlichen Geldern sind 2021 in die österreichischen Spitäler geflossen. Trotzdem gibt es Engpässe und Probleme. „Wir können die Medizin des 21. Jahrhunderts nicht mit Strukturen des 20. Jahrhunderts betreiben“, sagte jetzt Wilhelm Marhold, von 2005 bis 2014 Generaldirektor des damaligen Wiener Krankenanstaltenverbundes, gegenüber der APA. Zu fordern sei eine breite „Ambulantisierung“ der Spitalsmedizin.
Marhold, seinerzeit wesentlicher Gestalter einer in Wien seither umgesetzten Spitalsreform, ist einer der Proponenten der „Fokus Spital 2030“-Initiative des Praevenire Gesundheitsforums. An der Spitze steht der ehemalige Chef des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger, Ex-Finanzminister Hans Jörg Schelling. Der Arzt hat die Entwicklung des Spitalswesens auch international verfolgt: „Es gibt eigentlich europaweit Probleme. Das Spitalswesen in England hat man über Jahrzehnte hinweg kaputt gespart. Die Leistungen der Krankenhäuser in Deutschland werden zwar aus einer Hand, von den Krankenkassen, bezahlt, doch die Re-Investitionen des Staates sind seit Jahren degressiv, die privatisierten Betreibergesellschaften 'bis über die Nasenwurzel' verschuldet.“
Der Gynäkologe und langjährige Spitalsmanager, so hatte er die ärztliche Leitung der Wiener Rudolfstiftung (jetzt: Klinik Landstraße) inne, führte gegenüber der APA auch aktuelle österreichische Probleme an: „Die niederösterreichische Ärztekammer hat vor kurzem gemeldet, dass man in dem Bundesland derzeit ein Jahr auf eine künstliche Hüfte warten muss. Das ist zumeist keine Akutoperation, aber ein Jahr, das ist schon lang. Die Menschen haben ja Schmerzen.“
Praevenire Gesundheitsforum-Experte Marhold: Neue Strukturen statt Sperren
Für Marhold kennzeichnet auch die derzeitige Situation in der Steiermark die Problematik: „Von dort gab es vor wenigen Tagen Meldungen, wonach mehr als 600 freie Betten in den Abteilungen der KAGes-Spitäler gesperrt sind oder gesperrt werden sollen, weil das Personal fehlt bzw. überlastet ist. Das ist die Kapazität eines mittleren Zentralkrankenhauses. In Wien hat die Klinik Landstraße rund 700 Betten.“ Versorgungsengpässe seien da angesagt. „Das System reagiert auf Knappheit mit Sperren. Wir brauchen aber statt Sperren neue Strukturen.“ Im Rahmen des Praevenire „Fokus Spital 2030“ diskutieren österreichische Fachleute praktisch regelmäßig Situation und Reformbedarf im österreichischen Krankenhaussektor.
Die aktuelle Situation ruft - so der Experte - dringend nach Reformschritten. „Erstens, wir können die Medizin des 21. Jahrhunderts nicht in Strukturen des 20. Jahrhunderts betreiben. Der enorme technologische Fortschritt der Medizin muss in der Organisation des Krankenhausbetriebes und in der Spitalsfinanzierung abgebildet werden.“
Den größten Anteil an den Reformen müsste laut Marhold eine möglichst umfassende „Ambulantisierung“ der jetzt in den österreichischen Krankenhäusern noch immer zu einem guten Teil stationär durchgeführten und mit längerem Spitalsaufenthalt verbundenen medizinischen Leistungen darstellen: „Wir müssen viel mehr auf tagesklinisch durchgeführte Eingriffe setzen. Dazu benötigen wir viel mehr tages-stationäre Einrichtungen, in denen Patientinnen und Patienten drei, sechs, neun oder zwölf Stunden, nicht aber über Nacht, betreut werden. Die moderne Medizin ermöglicht, dass immer mehr Eingriffe schonendender und ohne Notwendigkeit von stationären Aufnahmen durchgeführt werden. Das müssen wir in den Spitälern ermöglichen.“
Technologischen Fortschritt in Medizin in organisatorischen Wandel umsetzen
Daraus würden gemäß dem Experte wesentliche Änderungen resultieren: „Mit dieser vermehrten tagesklinischen Versorgung fallen für das Pflegepersonal und die Ärzte Nachtdienste weg. Das gibt die Möglichkeit 20-, 30- oder 40-Stunden-Beschäftigungsmöglichkeiten nach den Bedürfnissen des Personals zu schaffen. Damit kann man eine bessere und auch geforderte Work-Life-Balance ermöglichen.“ Tagesarbeit sollte zu einem bisher unbekannten Ausmaß die belastenden Nachtdienste im Spital ersetzen und so die Lebensqualität und Zufriedenheit von Pflege- und Ärztepersonal erhöhen. Auch das Denken in fachspezifischen Bettenstationen sei veraltet. „Spitalsbetten sollten multidisziplinär belegt werden.“
Dahinter steckt, so Marhold, zu einem Gutteil die technologische Entwicklung der Medizin: „Mit der laparoskopischen Chirurgie („Schlüsselloch“-Chirurgie; Anm.) lassen sich immer mehr Eingriffe schonender durchführen. Das gilt für die Gynäkologie und die HNO genauso wie für die Bauchchirurgie, Orthopädie und viele andere Fachbereich auch.“ Gleichzeitig könnten dadurch auch die Aufenthaltsdauern der Kranken in den österreichischen Spitälern weiter reduziert werden bzw. ohne Übernachtung erfolgen. Immerhin kostet ein Spitalstag im Durchschnitt derzeit mehr als 1.100 Euro.
Wie groß der Nachholbedarf auf diesem Gebiet ist, hat der Wiener Gesundheitsökonom Thomas Czypionka (Institut für Höhere Studien; IHS) erst vor wenigen Tagen bei einem Hintergrundgespräch zu den aktuellen Finanzausgleichsverhandlungen zwischen Bund, Bundesländern und Gemeinden mit einer Grafik belegt. So wurden in Österreich im Jahr 2019 von knapp 800.000 tagesklinisch erbringbaren medizinischen Leistungen erst etwas mehr als 200.000 ohne eine Nacht im Spital erbracht. Weitere 350.000 Fälle bedingten einen Aufenthalt von ein bis drei Tagen im Krankenhaus, der Rest lag bei vier Tagen und mehr.
Forderungen auf mehreren Ebenen
Die Forderungen von Marhold laufen auf Reformen in mehreren Ebenen hinaus. „Wir haben in Wien die Zahl der Spitalseinrichtungen von 27 auf sechs plus eins (sechs große Krankenhäuser und das AKH mit den Universitätskliniken; Anm.) reduziert, aber bei den Zusammenlegungen die Kapazitäten erhalten. Das ist in einer Großstadt natürlich leichter als auf dem flachen Land. Für die 'Ambulantisierung' der Spitalsmedizin muss aber auch das Finanzierungssystem der Krankenhäuser umgestellt werden.“
Die in Zukunft vermehrt tagesklinisch durchzuführenden medizinischen Leistungen an Patient:innen müssten gemäß eines detaillierten Leistungskatalogs bezahlt werden und dürften nicht „in Ambulanzpauschalen“ untergehen, so Marhold. So könnten die entsprechenden Anreize für die Spitalserhalter, also in Österreich vor allem die Bundesländer, geschaffen werden. „Wir müssen vom 'Bettendenken' zum 'Funktionsdenken' kommen“, erklärte der Experte. Sinnvollerweise sollten Finanzierung und Strukturplanung bzw. Steuerung im Gesundheitswesen in einer Hand liegen. Die Ausformung müsse eben verhandelt werden.