„Mut zur Unvollkommenheit“
Burn-out unter Medizinern ist ein doppeltes Tabu. Die Hemmschwelle, sich Hilfe zu suchen, ist hoch. Im Gespräch mit „medinlive“ propagiert die Klinische Psychologin und Psychotherapeutin Ingeborg Pucher-Matzner einen „Mut zur Unvollkommenheit“ und ortet einen Wertewandel bei Jungmedizinern.
medinlive: Studien zeigen eine Prävalenz von Burn-out bei Ärztinnen und Ärzten. Können Sie diese Tendenz beschreiben?
Pucher-Matzner: Etwa 30 Prozent der Mediziner sind in einem mittleren Ausmaß von Burn-out betroffen. Publizierte Zahlen hängen stark von der gewählten Untersuchungsmethode ab und unterliegen einer großen Schwankungsbreite. Bei Umfragen liegt die Zahl derer, die sich als überlastet sehen, höher. Beim Einsatz spezifischer Fragebögen kommen wir dagegen zu einem niedrigeren Ergebnis. Auch muss man unterscheiden, in welchem der zwölf Stadien eines Burn-outs sich jemand befindet.
medinlive: Wie sehen diese Stadien konkret aus?
Pucher-Matzner: In der Anfangsphase geht es darum, dass sich Menschen hohe Ziele stecken und sehr viel von sich fordern. Dabei überschätzen sie ihre Energie und unterschätzen den Aufwand. Eine Zeit lang ist das auch in Ordnung. Jeder von uns kennt Phasen, in denen wir uns überfordert fühlen. Wir schaffen diese auch zu überwinden, wenn wir dann wieder einen Ausgleich herstellen und auf unsere Bedürfnisse achten. Ist das nicht der Fall, kann es etwa zu Bewegungs- und Schlafmangel kommen. Beziehungen werden stärker belastet und Konflikte entstehen, die häufig wegen fehlender Energie nicht gelöst werden können. Dies kann zu Rückzug und zu einer immer stärker werdenden Vereinsamung führen. Da befinden wir uns nun etwa im Stadium sechs bis acht. Es kommt zu einer inneren Leere, in der man sich nicht mehr spürt, wo man zynisch wird und andere entwertet, auch kann sich eine Depression entwickeln. Stadium zwölf ist der völlige Zusammenbruch – körperlich wie psychisch.
medinlive: Ab welchem Stadium sollte man Hilfe in Anspruch nehmen?
Pucher-Matzner: Relativ früh, etwa ab dem vierten Stadium. Wenn man etwa das Gefühl hat, man ist gefangen – das wäre ein Merkmal. Wenn man sich ein Ziel gesetzt hat, oder es einem gesetzt wurde, und man das Gefühl hat, man kann weder vor noch zurück und kommt selbst nicht mit eigener Kraft heraus. Oft hat man auch ein Problem damit, sich einzugestehen, dass es Schwierigkeiten gibt.
medinlive: Welche hemmenden Faktoren halten Mediziner davon ab, psychologische und psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen?
Pucher-Matzner: Die Befürchtung negativer Konsequenzen, ist ein Grund, warum die Suche nach Hilfe nicht so ausgeprägt ist. Wenn Mediziner zu ärztlichen Kollegen gehen, werden sie oft mehr als Gleichgesinnte denn als Hilfesuchende gesehen. Dieses Phänomen tritt schon im Medizinstudium auf. Bei der Behandlung und Kommunikation wird Akademikern automatisch mehr zugetraut und mehr von ihnen erwartet. Die hilfesuchenden Ärztinnen und Ärzte wiederum schlüpfen in die Rolle des Kollegen und sind vorsichtiger. Empfehlenswert wäre, wenn die Hürde zur Psychotherapie genommen werden könnte, was auch in vielen Fällen passiert – oft über dem Weg von Supervision. Ärztinnen und Ärzte erreicht man mitunter über ihre Patienten. Schwer ist es, direkt mit Betroffenen in Kontakt zu treten. Besonders wichtig ist es daher, dass man als Angehöriger, Kollege oder Bekannter einen Betroffenen von Burn-out, Depressionen oder bei Suizidgefahr, direkt anspricht und Hilfsmöglichkeiten aufzeigt. Es ist keine Schwäche, wenn man ein Problem hat und Unterstützung von außen sucht. Vielmehr hilft es dabei, im Beruf erfolgreich zu bleiben.
medinlive: Bei Burn-out und Co bröckelt das Bild der „Götter in Weiß“. Welche Rolle spielt die Identifikation mit der Arztrolle beim Ärzte-Burn-out?
Pucher-Matzner: Bei von Burnout betroffenen Ärztinnen und Ärzten kann es prädisponierende Faktoren geben, wie etwa Persönlichkeitsstile, die die Entwicklung einer psychischen Erkrankung begünstigen können. Darunter fällt etwa eine hohe Leistungsorientierung, aber auch ein geringer Selbstwert, Selbstüberschätzung sowie narzisstische Tendenzen zählen dazu. In der Psychotherapie sehen wir uns an, was vorher da gewesen ist – auf somatischer, psychischer und sozialer Ebene. Dann suchen wir nach Auslösern und den Faktoren, die zur Aufrechterhaltung beigetragen haben. Wenn jemand vielleicht eine Tendenz zur Geringschätzung von Beziehungen hat, andere entwertet, eine mangelnde emotionale Differenzierung und innere Leere spürt, dann schaukelt sich das über die Jahre auf. Zwar erreichen diese Menschen oft gute Positionen, aber es kommt irgendwann zu Konflikten – beruflich und privat. Das und andere Faktoren, wie Misserfolge – finanzieller Natur oder auch auf strafrechtlicher Ebene, etwa durch Behandlungsfehler – sowie Verluste, sind allesamt Faktoren, die neben anderen im schlimmsten Fall auch zu Suizidabsichten führen können.
medinlive: Unter Ärztinnen und Ärzten gibt es eine erhöhte Suizidrate. Wie erklären Sie sich das?
Pucher-Matzner: Unter Medizinern gibt es vermehrt solche Fälle. Woran das liegt, muss man sich genau ansehen. Vor allem bei Anästhesisten, Psychiatern und Zahnärzten sind die Fallzahlen erhöht. Bei Psychiatern wird angenommen, dass es durch die wiederholte Konfrontation mit dem Thema Suizid und die hohe emotionale Belastung durch die Begleitung von Menschen mit psychischen Leid bedingt. Wenn man dieses Fachgebiet wählt, muss man emotional ansprechbar sein. Was die Zahnärzte betrifft, so könnte eine erhöhte Scheidungsrate, die es hier gibt, oder die eher ablehnende Bindung des Patienten zur Ärztin oder zum Arzt eine Rolle spielen. Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung gibt es bei Medizinern auch abweichende Suizidmethoden. Während das Erhängen Statistiken zufolge die häufigste Suizidmethode in der Allgemeinbevölkerung ist, ist es bei Medizinen die Medikamenteneinnahme. Der erleichterte Zugang und das Wissen spielen hier sicher eine Rolle.
medinlive: Inwiefern spielt Sucht eine Rolle im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen von Medizinern?
Pucher-Matzner: Das Thema Suchterkrankung kommt immer wieder vor, Alkohol oder Medikamente werden zur Linderung von Beschwerden eingesetzt. Die Sucht ist oft eine sekundäre Konsequenz eines misslungenen Selbstbehandlungsversuchs, bei dem man probiert hat, eine andere psychische Störung wie Depressionen oder Angststörungen mit Alkohol oder Medikamenten zu behandeln. Das führt zu einer Abwärtsspirale.
medinlive: Insgesamt ist die Suizidrate in den vergangenen Jahren gesunken. Was hat positiv zu dieser Entwicklung beigetragen?
Pucher-Matzner: Es wurden verschiedene Maßnahmen in der Suizidprävention gesetzt. Eine davon ist die Suizidberichterstattung. Der Suizidforscher Georg Sonneck hat bereits vor Jahrzehnten am Institut für Medizinische Psychologie der MedUni Wien einen Leitfaden für die Berichterstattung über Suizid verfasst. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass eine sensationsträchtige mediale Berichterstattung über Suizide weitere Suizide auslösen kann (Anm. „Werther Effekt“). Auch die Suizidprävention Austria (SUPRA) hat viele Maßnahmen gesetzt. So hat sie sich etwa dafür eingesetzt, dass der Zugang zu Waffen oder Medikamenten erschwert wird.
medinlive: Wie sehen erste Anzeichen für ein Burn-out aus?
Pucher-Matzner: Erste Anzeichen sind Unzufriedenheit, Leistungseinbußen oder eine subjektive Unzufriedenheit mit der eigenen Leistungsfähigkeit. Andere Indizien sind Schlafstörungen, eine erhöhte Infektanfälligkeit oder Vergesslichkeit. Man spricht von einem Burn-out, wenn drei Bereiche zusammen vorkommen und über Wochen oder Monate bestehen, nämlich emotionale Erschöpfung, Depersonalisierung – die negative, zynische Haltung gegenüber anderen – und die Leistungseinbuße oder subjektive Leistungsunzufriedenheit.
medinlive: In Bezug auf Burn-out wird oftmals die Empfehlung ausgesprochen, sich abzugrenzen. Wie zielführend bewerten Sie diese Strategie?
Pucher-Matzner: Ich würde den Mut zur Unvollkommenheit propagieren als Gegensatz zum Wunsch nach Perfektion. Man sollte sich denken: Ich kann nicht alles können, ich versuche mein Bestes, aber es gibt Dinge, die ich nicht weiß oder nur suboptimal gestalte und das muss auch reichen.
medinlive: Für einen jungen Medizinstudenten oder Turnusarzt stelle ich mir diese Haltung sehr schwer vor.
Pucher-Matzner: Das stimmt. Gerade junge Ärztinnen und Ärzte sind sehr belastet. Da gibt es Druck von vielen Seiten. Man muss sich in einem System zurechtfinden, hohe Anforderungen werden gestellt, manchmal ist man mit verständnisvollen und manchmal mit weniger verständnisvollen Vorgesetzten konfrontiert. Da gibt es vieles, das belastet und wo diese Haltung schwierig ist. Aber ich höre immer öfter davon, dass dies gerade jungen Ärztinnen und Ärzten immer mehr gelingt und hier ein Wertewandel stattfindet und Freizeit wichtiger wird.
medinlive: Ist Burn-out eine Systemkrankheit?
Pucher-Matzner: Burn-out hat mit der eigenen Person zu tun, mit dem, wie viel eine Person von sich fordert, von sich fordern lässt und mit dem, was das System von der Person fordert. Wenn das System etwas fordert und die Person grenzt sich ab, dann kann sie nicht ausbrennen. Oft gibt es aber Zwänge, bei denen man nicht sagen kann, dass man nicht mitmacht. Das ist eine schwierige Balance.
medinlive: Welche Strategien können die Widerstandsfähigkeit stärken?
Pucher-Matzner: Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, um die Resilienz zu steigern. Einer meiner Schwerpunkte als Verhaltenstherapeutin ist die Ressourcenorientierung und -aktivierung. Dabei schaut man, was jemand kann, was jemand mitbringt und was jemand braucht. Anhand der Wertehierachie eines Menschen spürt man nach, ob es die eigenen Werte sind oder solche, die von anderen vorgegeben und verinnerlicht wurden. Dann versucht man gemeinsam herauszufinden, was dem Betroffenen besonders wichtig ist und ihn motiviert. Ein wertebasiertes Leben in der Gegenwart führen, es aktiv gestalten zu können und sich bewältigbare Ziele setzen. Weiters geht es darum, Achtsamkeit zu schulen und für „uplifts“, kleine positive, erfreuliche Ereignisse, zu sorgen. Das sind Kleinigkeiten, wie eine Tasse Kaffee zu genießen, Musik zu lauschen, einen Keks zu essen oder einen Spaziergang zu machen. Wenn ich mir dafür aber keine Zeit nehme oder es nicht genießen kann, kann langfristig die Energie ausgehen.
medinlive: Was sind gesundheitsfördernde Faktoren, die bei erhöhter Belastung im Berufsleben helfen können?
Pucher-Matzner: Wichtig ist es, sich im beruflichen Kontext Ziele zu setzen, die realistisch, selbst gesteckt und werteorientiert sind, da wiederhole ich mich. Auch bedeutsam ist es, die Arbeitsmenge möglichst ausgewogen und überschaubar zu halten. Es geht vor allem darum, einen Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung zu schaffen. Wir müssen uns entspannen, um wieder aktiv sein zu können. Im Spitalsalltag oder im klinischen Alltag ist das oft nicht möglich, weil es langandauernde hohe Belastungen gibt. Hier wäre es gut, zumindest kurze Pausen zu schaffen. Protektive Faktoren sind neben guten kollegialen und privaten Beziehungen, auch die regelmäßig Teilnahme an Supervision und Intervision. Interaktionsbezogene Fallarbeit ist dabei eine Variante, um berufsbezogene Themen – wie etwa Schwierigkeiten mit Patienten – zu analysieren und zu bearbeiten.
Ingeborg Pucher-Matzner ist Klinische Psychologin und Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie) an der Abteilung für Medizinische Psychologie der MedUni Wien und als Psychotherapeutin in freier Praxis tätig. Zu ihren Schwerpunkten zählen unter anderem Burn-out, Angst, Depression, Schmerzbehandlung und Selbsterfahrung.
Experten betonen, dass jeder Suizid bzw. Suizidversuch auf eine Vielzahl von Ursachen zurückzuführen ist.
Für Menschen in Krisensituationen und deren Angehörige gibt es eine Reihe von Anlaufstellen:
Notrufnummern und Erste Hilfe bei Suizidgedanken findet man unter www.suizid-praevention.gv.at.
Telefonische Hilfe im Krisenfall gibt es auch bei
● Telefonseelsorge 142, täglich, von 0 bis 24 Uhr.
● Kriseninterventionszentrum 01/406 95 95 (Montag bis Freitag, 10-17 Uhr);
auch persönliche und E-Mail-Beratung: www.kriseninterventionszentrum.at.
● Sozialpsychiatrischer Notdienst / PSD täglich, 0 bis 24 Uhr, Tel.: 01/31330
Angehörige finden Informationen und Materialien unter www.suizidpraevention.at
Ein anonymes Hilfsprogramm für Mediziner wurde kürzlich vom staatlichen britischen Gesundheitsdienst National Health Service (NHS) lanciert. Bei dem „Practitioner Health Programme“ können sich Ärztinnen und Ärzte mit ihren psychischen Problemen, Ängsten oder Depressionen vertraulich an Spezialisten wenden, um dort fachärztliche Hilfe zu erhalten.
Hintergrund:
Informationsbroschüre zu Burnout der Ärztekammer für Wien
Suizidprävention Austria (SUPRA) Bericht 2016
Interdisziplinäre Schmerzmedizin (ismed) an der MedUni Wien
Weiterlesen: