„Es gibt nach wie vor unheimlich viele Tabus und Fake"
Elia Bragagna ist Allgemeinmedizinerin mit Schwerpunkt Sexualmedizin. Im Gespräch mit medinlive erzählt sie, was Sex mit unseren Bewachungszentren, den Amygdalae, zu tun hat, wie Pornos unser Liebesleben beeinflussen und dass lustlose Frauen nicht automatisch keine Lust haben.
medinlive: Sexualmedizin ist ein relativ junges Thema, man möchte fast sagen, fast ein blinder Fleck in der Ärzteschaft. Wie sehen Sie das und was leistet und tut Sexualmedizin? Welches Werkzeug gibt man damit den Ärztinnen und Ärzten an die Hand?
Elia Bragagna: Als ich als Ärztin angefangen habe mit Sexualmedizin, glaubten die meisten, Sexualität wäre eine rein psychische Angelegenheit. Der somatische Aspekt dabei war und ist recht unbekannt. Dabei ist Sexualität natürlich sehr wohl auch etwas sehr Somatisches, weil wir dafür einen gesunden Körper brauchen; die vorherrschende Meinung war und ist aber in Medizinerkreisen immer eher so: „Sexualstörungen sind psychisch bedingt, wenn ich die psychischen Probleme beseitige und auf dieser Ebene wieder alles ok ist, dann ist auch die Sexualität wieder in Ordnung.“ Das stimmt gerade im Zusammenhang mit vielen Erkrankungen so aber nicht. Nehmen Sie etwa Bereiche wie die Onkologie oder Kardiologie, da spielt die Grunderkrankung und die daraus resultierende psychische und soziale Belastung intensiv zusammen. Und es ist ein Dilemma, wenn die Kollegen kein Wissen über diese Zusammenhänge haben oder darüber, was Sexualmedizin macht.
Natürlich muss die Psyche auch halbwegs stabil sein, eine ungestörte Sexualität braucht ein somato-psycho-soziales Gleichgewicht. Aber viele wissen zusätzlich nicht, was rund um die Sexualität psychisch abläuft, dabei sind das ganz konkrete neurobiologische Vorgänge. Und das ist es, um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen, was mich so irritiert. Wir lernen eventuell, was organisch rund um den Sex passiert, aber dass die Psyche und unser Verhalten eben auch biologische Grundlagen hat, das lernen wir Ärztinnen und Ärzte viel zu wenig, meiner Meinung nach. Dementsprechend können wir dann auch nicht verstehen, warum jemand, der eine schlechte Diagnose erfährt, auch Sexualstörungen entwickelt hat. Parallel dazu sollte es für uns als Ärztinnen und Ärzte selbstverständlich sein zu wissen, was mein chirurgischer oder therapeutischer Eingriff mit der Sexualfunktion des Patienten macht, denn er könnte diese eventuell negativ beeinflussen. Zusätzlich trauen sich die Wenigsten, das Thema Sex völlig ehrlich zu besprechen, da existieren nach wie vor unheimlich viele Tabus.
So eine Situation macht auf jeden Fall sehr viele Baustellen auf. Wir als Ärztinnen und Ärzte sollten uns zur Gewohnheit machen nach der sexuellen Gesundheit zu fragen und dabei eventuell auch den Partner mit einzubeziehen. Ein Angebot zu machen, etwa zu erklären, wenn man zum Beispiel operiert worden ist, dass es Zeit braucht bis sich die Lage wieder eingependelt hat, bis man wieder entspannt und fit ist. Durch therapeutische Maßnahmen, die das somato-psycho-soziale Gleichgewicht verändern, werden im ZNS die „Bewachungszentren“ (Amygdalae) aktiviert. Das kann auch zu einer Irritation der Sexualität führen. Wichtig ist daneben auch, aufzuzeigen, dass es Medikamente gibt, die helfen und/oder die Sexualität beeinflussen, im Negativen und Positiven.
medinlive: Wo gibt es die größten blinden Flecken in der Ärzteschaft?
Bragagna: Traurig sieht es um das Thema weibliche Sexualität aus. Zum Beispiel würde jede Urologin und jeder Urologe lachen, wenn man behaupten würde, dass bei bei Operationen im kleinen Becken nicht auch die Sexualfunktion beeinflusst werden kann. Natürlich kann es die Sexualfunktion verändern, genauso wie die Harn- und Stuhlfunktion, denn in diesem Operationsbereich gibt es ein großes, fein verflochtenes Netzwerk autonomer Nervenstrukturen, welche diese drei Funktionen steuern. Bei Operationen im kleinen Becken der Frau ist es noch keine Selbstverständlichkeit, das mit zu bedenken. Das nächste Thema: Die männliche Sexualität wird oft wie eine Maschine behandelt. Es wird zum Beispiel komplett außen vor gelassen, warum und wie psychische und soziale Stressoren die männliche Sexualität verändern, während bei den Frauen meist die Ursache auf der psychischen Ebene vermutet wird.
Ein Mann hat nichts davon, wenn ich ihm sage, „Ihr Problem ist Stress“. Aber wenn ich ihm erkläre, neurobiologisch, welche Botenstoffe unter Stress im Gehirn ausgeschüttet werden, warum welcher Bereich dadurch im Becken sozusagen „zugeht“, warum die Durchblutung im Penis schlechter wird...dann kann es sein, dass als Antwort kommt: „Ich habe furchtbar Angst, meinen Job zu verlieren“. Natürlich aktiviert diese Angst im ZNS die „Bewachungszentren“ und in der Folge das sympathische Nervensystem, mit den daraus resultierenden Folgen für die Sexualfunktion. Und dann verstehen die Männer die Gründe auch besser und können das nachvollziehen. Außer über Erektionsstörungen und Ejaculatio preacox wissen viele Kolleginnen und Kollegen da erfahrungsgemäß wenig über diese Thematik. Bei Frauen ist es überhaupt ein Dilemma. Vor allem althergebrachte Vorurteile begleiten die weibliche Sexualität.
medinlive: Was sind da die häufigsten, die ihnen da begegnen?
Bragagna: Die Lustlosigkeit per se, also die lustlose Frau. Da kann ganz leicht eine falsche Diagnose gestellt werden. Wenn eine Frau keine Lust hat, ist sie nicht automatisch eine lustlose Frau! Vielmehr geht es darum herauszufinden, warum hat sie denn keine Lust? Was ist denn los bei ihr rundherum? Und was würde sie brauchen, damit sie Lust bekommt? Ein Großteil der Kolleginnen und Kollegen weiß zum Beispiel gar nicht, dass es so etwas wie eine sexuell neutrale Frau gibt. Diese Frauen sind völlig gesund, sie haben eben nur nicht mehr so oft diese spontane Lust wie in der Verliebtheitsphase. Aber genau das wünschen sich die Männer vielfach, denn viele Männer „konsumieren“ gerne unkomplizierten Sex, ohne viel emotionale Energie in die sexuelle Begegnung investieren zu müssen.
Sexuell neutrale Frauen erkennt man gut daran, dass sie Sex eigentlich lieben und sich selbst darüber wundern, weswegen sie oft wochenlange Phasen haben, ohne ein Bedürfnis danach. Sie leiden auch nicht darunter. Wenn sie allerdings Sex haben, genießen sie es und verstehen nicht, weswegen sie es nicht öfters machen. Im Gespräch stellt sich oftmals heraus, dass diese Frauen (und auch deren Partner) sehr oft nicht wissen, welchen Einstiegsreiz es braucht, damit sie Sex haben möchten. Frauen schlafen mit ihrem Partner nicht immer aus spontaner Lust. Es gibt viele Gründe, warum sie ihm körperlich nah sein wollen und aus dieser Nähe kann dann ein Bedürfnis nach Sex entstehen. Es wäre also wichtig, dass die Frauen für sich herausfinden, unter welchen Voraussetzungen sie körperliche Nähe suchen. Genauso wichtig ist es aber auch, dass der Partner registriert, welche Situationen für seine Partnerin erotisierend sind und nicht von seiner (männlichen) Sexualität auf die der Frau schließt.
Wenn diese Frauen dann doch Hilfe suchen, dann wird sofort gescannt, wie es um den Hormonhaushalt bestellt ist, was grundsätzlich nichts Schlechtes ist. Im Idealfall sollte aber auch noch auf die Medikamente geschaut werden und auf eventuell kontrasexuelle Erkrankungen, wie psychisch bedingte, geschaut werden. Wenn aber auf dieser Ebene alles in Ordnung ist, wird gerne Lustlosigkeit diagnostiziert. Dabei ist die Frau ist einfach nur sexuell neutral und es wäre unsere Aufgabe, ihr zu helfen herauszufinden, was sie braucht, um körperlich „aufmachen“ zu können.
medinlive: Was wären dann klassische Trigger, die Lust auslösen könnten? Bewegen wir uns da auf der eingangs erwähnten psychischen Ebene, mit dem Bedürfnis nach Intimität und Nähe?
Bragagna: Es kommt darauf an, wie diese Frauen geprägt wurden. Da kommt ein historisches Dilemma dazu, denn mit Buben und Mädchen wird schon von klein auf in Bezug auf Körperlichkeit anders umgegangen. Wenn der Bub an seinem „Spatzi“ herumspielt oder wie immer man zum Penis sagen will, dann finden das viele Eltern eher rührend und sagen maximal, er soll das nicht in der Öffentlichkeit machen. Bei Mädchen, berichten Sexualpädagogen, reagieren die Eltern viel irritierter darauf, wenn sie sehen, dass ihre Tochter die Geschlechtsteile berührt. Da geht es gleich ums Händewaschen und Hygiene, sich dort „nicht schmutzig zu machen“. Das sind doppelte Standards.
Historisch gesehen wurde die Frau ja immer darauf konditioniert, Liebesgefühle zu haben, bevor sie sich auf Sex einlässt. Es geht immer um das offene Herz, man muss sich öffnen als Frau, bevor Sex passiert. Beim Mann ist es umgekehrt, da darf der Körper die Sexualität und Lust bestimmen. Sobald der Penis steif ist, will der Mann Sex, so das gängige Klischee. Was natürlich völliger Schwachsinn ist, denn diese körperliche Reaktion definiert sicher nicht das Wollen eines Mannes alleine. Ein steifer Penis ist vorerst einfach eine physiologische Reaktion. Der Parasympathikus ist aktiviert, die Blutgefäße des Penis erweitern sich, der Penis wird steif. Und man lässt dabei übrigens außer Acht, dass Frauen genauso simpel stimuliert werden und reagieren können wie ein Mann. Das passt nur nicht ins Bild der gefühlsbetonten weiblichen Sexualität, bei ihnen soll es eher um das Emotionale gehen.
Das Dilemma dabei ist: Wenn eine Frau konditioniert wurde, dass sie, um sexuelle Gefühle zulassen zu können, vorher Liebesgefühle spüren und ihr Herz offen sein muss, dann braucht sie selbst schon diese subjektive, emotionale Erregung oder glaubt es zu brauchen, bevor sie Erregung im Genitale spürt. So ein „Herzöffner“ kann ein schönes gemeinsames Essen sein, Lachen oder einfach die Frage „Wie war dein Tag?“. Männer sind dann oft komplett irritiert, wenn die Frau dann Sex will, weil es ja vorher um etwas ganz anderes ging als um explizit Sexuelles. Dabei laufen da im Gehirn der Frau sehr wohl Prozesse ab, die mit einer sexuellen Anbahnung zu tun haben. Sie fühlt sich gesehen, es entsteht Nähe, und im Gehirn werden Botenstoffe ausgeschüttet, die auch auf die genitale Erregung wirken.
Man sollte die Fra auch fragen, zu welchem Typ sie sich eher zählt. Ist sie jemand, der sowieso auf direkte sexuelle Stimuli körperlich anspricht oder ist sie jemand, der vorher emotionale Nähe braucht, um sich sexuell einlassen zu können? Dann kann ich ganz anders arbeiten, wenn ich diese Infos habe, denn sonst habe ich ein Label im Kopf, mit dem ich gezwungenermaßen umgehen muss.
medinlive: Diese alten Klischees vom Mann, der sexuell quasi immer will und der Frau, die müde abwinkt, weil sie erschöpft von Erwerbsarbeit, Kindern und Haushalt ist: Wie erleben Sie das in Ihrer Praxis?
Bragagna: Das stimmt über sehr weite Strecken tatsächlich. Wobei es darum geht, dass Frauen oft einfach völlig andere Übergangsrituale brauchen als Männer, das zeigen auch viele Studien. Ein Beispiel: Der Mann freut sich den ganzen Tag im Job auf Sex mit seiner Frau abends. Er kommt nach Hause und kommuniziert das auch unverblümt. Und sie versteht überhaupt nicht, wie er auf den Gedanken kommt Sex mit ihr zu wollen, nachdem sie gerade die Kinder ins Bett gebracht hat, Geschirrspüler ausgeräumt und vorher Essen gekocht hat. Da war doch noch gar kein persönlicher Kontakt, kein Miteinanderreden da, was die Frau allerdings brauchen würde!
Man merkt also sehr stark, Frauen wollen eine Verbindung aufgebaut haben, bevor sie losstarten in ein sexuelles Erlebnis. Wobei sich da auch sehr viel auf männlicher Seite tut, das zeigt etwa eine Studie aus den Niederlanden mit zigtausend Jugendlichen. Für immer mehr junge Männer bedeutet gelungene Sexualität auch, neben dem Lusterleben auch emotionale Nähe und Intimität herzustellen. Ein Viertel sagt nach wie vor, geiler Sex reicht. Das darf doch auch so sein, aber man sieht, es ändert sich sehr stark. Ich habe auch Burschen in meiner Praxis, die sagen, wenn es nicht auch rundherum passt, dann tut sich auf der sexuellen Ebene nichts. Ich finde diese Entwicklung ziemlich beruhigend. Denn wir haben uns lange auf das rein Tierische reduziert in der Sexualität. In allem verlangen wir von uns Menschen, mehr als einfach Tiere zu sein, das Tierreich hinter uns zu lassen, aber beim Sex, da sollen wir am besten immer noch einfach animalisch funktionieren, zumindest die Männer.
medinlive: Was stresst die Frauen in Sachen Sex am meisten?
Bragagna: Bei den Frauen gibt es ein deutliches Wissensdefizit rund um das Thema Erregung und Erregungsstörungen. Wenn die Ärztin, der Arzt dann doch nachfragt, wie etwa das Vorspiel läuft, sagen die Frauen: Es ist in Ordnung. Nachgehakt stellt sich dann oft heraus: Die Männer bemühen sich. Und noch weiter nachgefragt, um was sich die Männer denn eigentlich bemühen und wie dieses Bemühen aussieht, stellt sich heraus: Es geht mitnichten um das was die Frau gerne hätte, sondern er macht halt die Dinge, von denen er denkt, sie könnten gut passen. An sich wäre es durchaus gut sich vorher gemeinsam auszutauschen, was möchte denn die Frau, was erregt sie, möchte sie geküsst, gestreichelt oder ganz anders erregt werden? Und da würde es helfen, wenn die Frau überhaupt einmal weiß, was sie triggert und erregt.
Und, höchst interessant für mich: Viele Frauen sagen, das Vorspiel dauert dem Mann zu lange. Dann denkt man sich als Ärztin, gut, es ist hier die Rede von einer halben, dreiviertel Stunde, also tatsächlich lang, aber nein! Viele Frauen erzählen, nach fünf bis zehn Minuten bekommen sie Stress, wenn sie nicht feucht werden, denn „er bemüht sich ja so“. Nach fünf Minuten! Und feucht zu werden wird ja immer schwerer je älter man wird, wenn das Östrogen abnimmt und dadurch die Durchblutung weniger gut ist. Wenn die Frau dann zusätzlich nicht schon vorher weiß was sie braucht, um wirklich „rollig“ zu werden, wird es schwierig.
Das zweite, was oft nicht bedacht wird ist, dass Frauen Stress bekommen, wenn der Penis steif wird. Der Penis reagiert ja bekanntlich recht schnell und die meisten Frauen sagen, ab dem Moment dieser Reaktion fühlen sie den Druck, auch feucht zu sein. Purer Stress also. Hätten die Frauen das Wissen um die neurobiologische Ebene beim Mann, wären sie wahrscheinlich entspannter, denn diese Reaktion beim Mann zeigt nur an, dem Mann geht es jetzt gut, die Entspannungsnerven sind aktiviert, die Durchblutung ist super. Anstatt dass die Frau diesen Zustand genießen kann, den Mann genießen kann, stresst sie sich massiv, funktionieren zu müssen. Das bewirkt allerdings, dass sie noch schwerer feucht wird, denn die Stress- oder Bewachungszentren werden aktiviert. Und da sind wir dann bei all diesen Fakesituationen angekommen, in die sich Frauen hineinbegeben, damit sie nicht Farbe bekennen müssen. Damit sie nicht zugeben müssen, dass der Sex eigentlich nicht passt für sie.
medinlive: Wo liegen denn da die größten Missverständnisse, wo spielen Paare am Öftesten Theater, sicher auch ungewollt?
Bragagna: In einer Studie mit 1566 Teilnehmerinnen im Alter zwischen 18 und 22 gab jede dritte Frau an, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr zu haben. Jede zweite schläft trotzdem mit ihm! Da das allerdings alles High-School Studentinnen waren, ist das nicht repräsentativ für alle Frauen. Trotzdem lassen sich Verhaltensmuster von Frauen erkennen, die auch durch andere Studien bestätigt wurden. Typische Aussagen, warum sie das trotzdem machen, waren: Man wolle dem Partner eine Freude machen oder sie ihm nicht verderben oder ihm zeigen, wie wichtig er einem ist. Man macht es, um ihn nicht zu verlieren oder zu beschämen oder der Klassiker: Geschlechtsverkehr gehört zu einer guten Beziehung dazu, sonst ist man keine richtige Frau. Man hat also viel zu verlieren, wenn es in diesem Bereich nicht gut läuft und deswegen wird oft gefakt.
Es wäre aber einfach schön und wichtig, wenn in diesem Bereich mehr Ehrlichkeit herrschen würde und auch, dass es dazu mehr echtes, faktenbasiertes Wissen gibt. Im Grunde erfahren die Jugendlichen mit viel Glück momentan ein bisschen etwas über Biologie. Oder sie erfahren andererseits Performancesex, etwa über Pornos. Das alles deckt aber bei Weitem nicht die Bandbreite dessen ab, die es braucht, um eine erfüllte Sexualität leben zu können. Man muss seine eigenen (Körper-)Bedürfnisse kennen und spüren und sollte diese verbal oder nonverbal dem Partner mitteilen können.
medinlive: Stichwort Porno: Was macht der Konsum von Pornographie mit der Sexualität?
Bragagna: Wenn die Jugendlichen ein adäquates Umfeld haben und dieses korrigierend wirkt, dann zeigt sich, sie wissen, das passt nicht mit der Realität zusammen, diese Filme sind Märchen. Aber es zeigt sich auch, dass sie trotzdem Bilder dazu im Kopf haben, die die Generationen davor nicht im Kopf hatten. Zum Beispiel: Früher war Analsex ein Tabu. Wenn jetzt ein Mädchen kein Analsex will, gilt sie als prüde, denn in Pornos gehört das zum Standardprogramm. Das heißt, sie kommt gar nicht auf die Idee zu hinterfragen, ob sie das selbst mag oder Neugier zu entwickeln, denn „das“ gehört doch dazu laut Pornos.
Viele sagen wiederum, ich bin jetzt nicht so rasend scharf auf Oralsex, aber trotzdem gehört das schon länger zum „Standardrepertoire“, weil es eben diese Vorgaben gibt. Kennen Sie übrigens Squirting? (weibliche Ejakulation, Anm. d. Red.) Wie stolz da manche Männer sind, dass ihre Frau das „kann“! Da merkt man, sie wollen unbedingt reproduzieren, was sie in Pornos gesehen haben und das erzeugt natürlich Druck. Gleichzeitig denke ich mir, die Menschen früherer Generationen haben eben mit anderen Dingen Stress gehabt. Ich hatte zum Beispiel eine Patientin, die hat all ihre Männer zerkratzt, weil sie dachte das gehört sich so beim Orgasmus, denn sie hat das einmal gesehen in einem Film. Soviel zur Macht der Bilder.
medinlive: Wie reagiere ich dann als Ärztin, als Arzt auf das Thema, wenn ein Mann zb. auf Pornos abfährt und das seine Partnerin unter Druck setzt, ähnlich oder gar genauso zu performen wie im Film?
Bragagna: Als erstes geht es darum herauszufinden, woher sein Interesse stammt. Das trainiere ich auch sehr stark mit „meinen“ Ärztinnen und Ärzten in den Fortbildungen: Es gibt immer wieder unter ihnen Befürworter und Gegner von Pornos, nur bringt uns das Bewerten hier nicht weiter. Stattdessen sollte man aber fragen: „Was ist denn das Tolle an Pornos für Sie?“ Das wäre ein viel besserer Zugang. Oft kommt man dann darauf, dass die Männer – und von denen reden wir ja bei Pornos meistens – wenig Verführungskompetenzen besitzen, sehr wenig Kontakt zum eigenen Körper und wenig Nähe zu den eigenen Bedürfnissen haben. Diesen Männern geht in längeren Beziehungen die Palette an Verführungsmöglichkeiten aus und der Sex wird langweilig.
Wenn man fühlt und guten Kontakt zum eigenen Körper hat, ist Sex jedes Mal anders und so wie ich ihn gerade brauche, einmal wild, einmal zärtlich, einmal fad, einmal aufregend. Aber wenn mir das fehlt, dann läuft das nach Schema F ab, dann braucht es einen immer neuen Kick und die Pornokonsumenten suchen dann nach einem Dopaminschub, wie es permanent spannend wird. Die Anleitungen dazu hoffen sie in Pornos zu finden. „
Und viele sagen dann auch, Sex ist so unkompliziert in den Filmen, bei uns daheim ist es so kompliziert, bis die Kinder im Bett sind, die Frau sich wohlfühlt, keinen Stress hat…also die großen Hürden, die Frauen oft aufstellen bis es zum Sex kommt, die fallen im Porno komplett weg. Da fletschen die Frauen ja quasi vor Geilheit die Zähne, wenn der Mann bei der Tür hereinkommt, was eher selten in der Realität vorkommt (lacht) – außer in der Verliebtheitsphase. Und da kann man dann ansetzen im ärztlichen Gespräch und fragen, was kann man denn tun, damit die Frau diese Übergangsphase nicht so hochschraubt, weil ja eigentlich seitens des Mannes einfach nur körperliche Nähe gesucht wird.
Auf weiblicher Seite merkt man wiederum oft, dass sie aus dieser Spirale des Leistens nicht herauskommen. Viele leisten, performen auf jeder Ebene, bis sie am Abend erschöpft und leer dasitzen, und da kann die Frau oft gar nichts mehr fühlen. Manchmal merke ich dann bei solchen Patientinnen, dass sie richtig froh sind eben nicht mehr fühlen zu können. Sie würden dann eventuell spüren: „Ich muss etwas aufgeben im Leben, den Job, wie ich ihn derzeit mache oder meine hohen Ansprüche als Mutter, Partnerin“. Andererseits geht es den engagierten Vätern aber ganz genauso, die bekommen den Druck genauso ab und sind im selben Hamsterrad wie die so genannten Working Mums. Was in diesem Zusammenhang interessant ist, dass Männer Sex sehr oft zum Stressabbau nutzen, Frauen eher selten. Frauen sagen eher, dass sie entspannt sein müssen, um Lust auf Sex zu haben. Es stimmt, dass beim Sex viele Botenstoffe ausgeschüttet werden, die entspannen. Natürlich nutzen das auch Frauen. Das sind aber vor allem Frauen, die Sexualität einfach auch nur als körperliches Bedürfnis wahrnehmen können und in diesem Zusammenhang nicht immer eine große emotionale Nähe erwarten. Dabei wäre das in der Rushhour des Lebens enorm praktisch, wenn Sex entspannend für beide wäre.
medinlive: Wir haben zuerst von der sexuell neutralen Frau geredet, aber wie definiere ich überhaupt eine gesunde und eine „gestörte“ Sexualität? Was macht „gestörte“ Sexualität aus?
Bragagna: Eine Sexualstörung erzeugt bei den Betroffenen Leid. Ohne Leidensdruck kann die Betroffene ein sexuelles Problem zwar haben, sie wird aber deswegen keine Hilfe in Anspruch nehmen. Warum sollte sie auch? Jede und jeder von uns kennt Phasen, in denen die Sexualität nicht wie immer ist. Lustlosigkeit als Sexualstörung liegt also nur dann vor, wenn die betroffene Frau darunter leidet. „Nur lustlos“ (ohne Leidensdruck) ist laut Studien jede dritte Frau. Vergessen wir als Ärztinnen und Ärzte auch nicht, dass es jetzt schon eine ganz neue Form des sozialen Drucks gibt. Mit den Medikamenten gegen Sexualstörungen wächst der Stress unserer Patientinnen und Patienten, auch immer sexuell „funktionieren“ zu müssen. Das erzeugt einen enormen Leistungsdruck. Noch gibt es für die Frau nicht die Pille gegen die Lustlosigkeit, obwohl intensiv dazu geforscht wird. Gäbe es diese schon am Markt, dann hätten die Frauen keine „Ausreden“ mehr, sexuell nicht zu funktionieren. Und so entsteht dann Leidensdruck aus anderen Gründen als der eigentlichen körperlichen Lustlosigkeit. Die Mehrheit der Frauen kommt ja, weil die Partnerschaft unter ihrem Symptom leidet. Ein Teil der Frauen, die da kommen, erkennen sich selbst sexuell nicht mehr wieder, sie haben Kinder bekommen, arbeiten zu viel oder beides und leiden dann auch deshalb. Ein Großteil kommt aber, weil sie ein ganz anderes sexuelles Appetitverhalten haben als Männern und dann muss man schauen, warum das so anders ist und wie man eine für beide passende Lösung finden könnte.
medinlive: Weibliche Sexualität orientiert sich ja nach wie vor extrem am männlichen Sexualverhalten. Wo sehen Sie die Problematik an dieser Situation und wie kann man sie lösen?
Bragagna: Für mich war es sehr schön, in den vielen Jahren meiner Praxis herauszuarbeiten, wie sehr Männer Sexualität als Intimitätsmöglichkeit nutzen. Und solange wir in einer Gesellschaft leben, in der Männer nicht zart sein und Bedürfnisse zeigen dürfen, auch körperliche abseits von Sexualität, wird der Mann immer versuchen, der Frau über Sex nah zu sein. Bei denjenigen, die am allermeisten und häufigsten Sex wollen, habe ich gemerkt, dass es genau diejenigen sind, die das allergrößte Bedürfnis nach Nähe, nach inniger Nähe, haben. Es ist schön herauszuarbeiten, wie man sich auch anders nah sein kann.
Eines der extremsten Paare, das zu mir gekommen ist, hatte folgende Situation: Der Mann wollte täglich Sex, dabei stand er schon unter vom Urologen verschriebenen Antiandrogenen, die aber nicht zu helfen schienen. Die Frau war extrem verzweifelt. Sie hat diesen Zustand kaum ausgehalten und tatsächlich auch von Suizid gesprochen. Dabei hat sich dann herausgestellt, es war für ihn die Möglichkeit, zu entspannen und Nähe zu bekommen, auch, weil er das als Kind nie gekannt und erlebt hat. Sex war die erste und einzige Möglichkeit für ihn im Erwachsenenalter, innige Nähe zu erleben. Letztens habe ich eine ganz wunderbare Dokumentation gesehen, „The mask you live in“. Da geht es um die alten, toxischen Bilder von Männlichkeit, in die wir teilweise wieder zurückfallen. Wir nehmen den Männern ihre Vielfalt, ihre Bedürfnisse, indem wir sie in Klischees pressen, wie „echte“ Männer zu sein haben. Das fängt ja schon im Kleinkindalter an; eine Zeit lang sind Buben und Mädchen durchaus gleich und dann driften die beiden Geschlechter plötzlich auseinander. Ein Bub darf nicht weinen, ein Bub muss sich trauen seine Ellbogen auszufahren, muss sich durchsetzen können ..und schon da verlieren die Geschlechter den Bezug zu sich und zueinander.
Für mich ist das aber irrsinnig wichtig zu sehen, dass dieser Bezug gegeben ist, denn sonst verlieren beide Seiten an Potenz und sexueller Kraft. Wenn ein Mann emotionaler ist und mehr fühlt und eine Frau körperlicher agiert, dann wäre das ein perfektes Match. Das ist unter anderem eine klassische Aufgabe der Sexualtherapie, dass Menschen mit sich und miteinander in Kontakt kommen. Ich als Ärztin dagegen schaue mir zusätzlich das Körperliche an. Welche Medikamente werden eingenommen, die Erregung und Lust eventuell dämpfen oder verhindern können? Das läuft parallel.
medinlive: Weil wir gerade von Kindern geredet haben: In einem Vortrag haben Sie davon gesprochen, dass wir alle immer glauben, Kinder seien sexuell viel frühreifer als noch vor 20 Jahren, was allerdings nicht stimmt.
Bragagna: Genau, Sexualpädagogen lachen bei dem Thema immer ein bisschen, denn es ist eigentlich in den Grundzügen gleichgeblieben. Aber wir glauben immer, weil alles so sexuell aufgeladen ist, Werbung und all das, wären Jugendliche viel früher und umfassender sexuell aktiv. Das für mich Faszinierende bei dem Ganzen ist aber, dass junge Menschen sehr wohl zuerst darauf schauen, in Beziehung zu gehen oder zumindest vorab klar definiert haben wollen, etwa bei Datingplattformen, um was es geht. Geht es um Sex oder eine potentielle Beziehung?
medinlive: Ich würde jetzt gerne noch über das Thema kontrasexuelle Medikamentation sprechen. Antidepressiva etwa gelten landläufig als Libidokiller, kann man das nach wie vor so sagen? Welche Medikamente zählen da noch dazu?
Bragagna: Vorab ist mir wichtig zu sagen, dass es mir nicht darum geht Medikamente schlecht zu reden. Wann immer Medikamente verordnet werden müssen, sollen sie es auch. Wichtig ist mir nur, dass die Kolleginnen und Kollegen sich des kontrasexuellen Potenzials eines Medikamentes bewusst sind und mit den Patientinnen und Patienten ein Aufklärungsgespräch führen sollten. Grundsätzlich sollten beim Arzt und bei der Ärztin die Alarmglocken läuten, wenn die Patientin oder der Patient Medikamente nimmt, die im Gehirn wirken, da gilt Obacht. Auch Präparate, die hormonell wirken oder die Durchblutung verändern, sollte man als Ärztin, als Arzt im Auge behalten. Bei vielen Medikamenten ist den Kollegen gar nicht bewusst, dass sie hormonell wirken wie zum Beispiel Medikamente mit -com oder -plus hintendran. Diese greifen in den hormonellen Stoffwechsel ein und können dadurch kontrasexuell wirken. Oder Antihypertensiva: Sie verändern die Durchblutungssituation. Psychopharmaka greifen in den Botenstoffhaushalt des ZNS und der Peripherie ein und können daher ebenfalls kontrasexuell wirken. Hormonblocker sowie orale Kontrazeptive können natürlich auch die Lust und Erregung beeinflussen.
Auch chronisch eingenommene Antiemetika, H2 Blocker oder Cholesterinsynthesehemmer können sich negativ auswirken. Mir ist es wichtig zu wissen warum? Was löst zum Beispiel auch ein gutes Antiemetikum aus? Es induziert eine Hyperprolaktinämie. Andere Medikamente greifen in den Steroidstoffwechsel ein.
Bei erwähnten Antidepressiva ist es wichtig sich bewusst zu machen, dass Frauen nach der Menopause doppelt so viele Antidepressiva verschrieben bekommen wie Männer des gleichen Alters und wie oft hier Sexualstörungen auftreten. Sehr häufig werden postmenopausalen Frauen Antidepressiva verschrieben, obwohl die auftretenden Symptome auf einen Hormonmangel zurückgehen. Der abrupte Abfall der Botenstoffe ist ja für viele Frauen problematisch, auch, weil die Hormone ja dafür sorgen, dass biogene Amine produziert werden, also die Substanzen, die im Gehirn für emotionales Gleichgewicht sorgen.
medinlive: Zum Abschluß eine Riesenfrage meinerseits: Wie beeinflussen Hormone die Sexualität vor und nach der Meno- und Andropause?
Bragagna: Ich finde es lächerlich, wenn man so tut als hätten sie keinen Einfluss, denn dann würde uns Frauen zum Beispiel in der Pubertät kein Busen wachsen, der Penis nicht weiterwachsen, nichts würde sich ändern. Ich spiele damit auf die Postmenopause an, das ist einfach eine Zäsur, ein Abfall der Hormone. Wenn eine Frau also postmenopausal zu mir kommt und sagt sie ist lustlos, dann würde ich mir daher natürlich immer die Hormone anschauen, aber trotzdem nicht immer automatisch selbige als Hauptauslöser sehen. Da geht es auch um lange Beziehungen, Beziehungen, in denen die Qualität schon lange nicht mehr stimmt, die Kommunikation schlecht ist...da gibt es eine Vielfalt an Faktoren. Eine Studie aus Berlin besagt übrigens, dass die sexuell potente Frau diejenige ist, die ihre (körperlichen) Veränderungen akzeptiert, auch mit ihrem Partner darüber sprechen kann und eine passende Lösung für auftretende Sexualprobleme finden kann
Und ich werfe unserem Gesellschaftssystem ja ein bisschen vor, dass es uns nicht beibringt, wie man über Dinge redet, die theoretisch zwar ein Problem darstellen, in der Praxis aber keines sein müssen. Anstatt darüber zu reden und zu sagen, ja, unsere Sexualität ändert sich, reden wir doch schamlos im Wortsinn darüber, schweigen wir oder schämen uns im schlimmsten Fall. Das fehlt mir in unserem Gesellschaftssystem: Die diesbezügliche Offenheit.