„In der Pogromnacht holte mich meine Mutter plötzlich aus dem Bett, trug mich und bettete mich im Wohnzimmer auf das Sofa, und ich sah da junge Menschen in schwarzer Uniform und glänzenden Stiefeln –sie gingen ins Schlafzimmer. Dann hörte ich Schreien und Stöhnen und verstand als 8-Jähriger natürlich gar nichts. Sie verprügelten meinen Vater, verletzten ihn durch Stiefeltritte im Gesicht und zuletzt nahmen sie ihn mit. Zusammen mit anderen Juden brachte man sie zu einem Teich in einem Vorort von Graz, alle mussten ins eiskalte Wasser, ohne sich umzusehen. Dann hörte man Motorgeräusche und die SSler zogen ab .Am frühen Morgen kam Dr. Steigmann wieder in die Afritschgasse, aber bevor seine Wunden heilten, holte man ihn wieder und er kam nach Dachau.” (aus einem E-Mail von Kurt Steigmann an den Verein für Gedenkkultur).
So erinnert sich der Sohn des jüdischen Arztes Max Steigmann an die Novemberpogrome. Steigmann lebte mit Frau und Kind in der Afritschgasse 30 in Graz. Laut seinem Sohn wurde er, da er nicht zahlungsfähige Patienten kostenlos behandelte, auch Armenarzt genannt. Während der Novemberpogrome wurde Steigmann von Mitgliedern der SA aus seiner Wohnung geprügelt und in ein Lager gebracht. Zu seinem Glück konnte er aber flüchten, ging nach Südamerika und kehrte 1948 kurz in seine Wohnung zurück.
Und auch in Wien, besonders in Erdberg, ging es wüst zu. Die Mitglieder des berüchtigten SA-Sturmes 7/24 stürmten mit dem Ruf „Juden heraus!“ Wohnungen, zerrten Familien auf die Straße und zwangen sie unter brutalen Verhöhnungen zum Straßenreiben. Sie sprengten Geschäfte auf.
Verfolgung und Auswirkungen
Durch die am 25. Juli 1938 bekannt gemachte Vierte Verordnung zum Reichsbürgergesetz erloschen die Approbationen jüdischer Ärztinnen und Ärzte in Österreich am 30. September 1938. Die beamtete Ärzteschaft wurde mittels der am 4. Juni 1938 veröffentlichten „Verordnung zur Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums“ von „Juden“ und politischen Gegnern „gesäubert“, wie es zynisch bezeichnet wurde. Den frei praktizierenden jüdischen Ärztinnen und Ärzten wurde zumeist mit Wirkung vom 1. Juli 1938 die Kassenzulassung entzogen. Einige jüdische Ärztinnen und Ärzte, sogenannte „Krankenbehandler“, erhielten Spezialzulassungen für die Behandlung ausschließlich jüdischer Patientinnen und Patienten. Teilweise fiel die „rassische“ mit der politischen Verfolgung zusammen – prominente Beispiele hierfür sind Wilhelm Ellenbogen und Sigmund Freud.
„Massiver Aderlass“
Der Niedergang der Wiener Medizinischen Schule hat aber schon vor dem sogenannten „Anschluss“ im März 1938 eingesetzt - vor allem durch sich verschärfenden Antisemitismus im Austrofaschismus. hieß es bei der wissenschaftlichen Tagung „Anschluss“ im März 1938, die 2018 in Wien stattfand. Insgesamt hat das NS-Regime rund 4.200 österreichische Mediziner verfolgt. Etwa 50 Prozent des medizinischen Lehrkörpers der Universität mussten gehen.
„Es war ein massiver Aderlass, der nach 1945 irreparabel war“, beschrieb Prof. Dr. Ilse Reiter-Zatloukal vom Institut für Rechts-und Verfassungsgeschichte. Die Folge von Austrofaschismus und Nationalsozialismus mit der Vertreibung oder Vernichtung der politisch „missliebigen“ Mediziner und Ärztinnen und Ärzte jüdischer Abstammung seien „zumindest 50 verlorene Jahre“, sagte der Soziologe und Journalist Klaus Taschwer.
Entlassungen aus rassistischen Gründen
Die Verfolgungen setzten aber nicht erst mit dem „Anschluss“ am 12. März 1938 ein. „1927 hatte die medizinische Fakultät in Wien 75 Professoren und 264 Dozenten. 1942/1943 waren es 27 Professoren und 93 Dozenten. 1949 23 Professoren und 93 Dozenten“, stellte Taschwer dar.
An der medizinischen Fakultät wurden mit dem Nationalsozialismus in Österreich allein 177 von 321 Angehörigen des Lehrpersonals aus rassistischen Gründen entlassen. Das war ein Anteil von rund 50 Prozent, ebenso hoch wie der Anteil der an der juridischen Fakultät wegen der Rassengesetze aus ihren Posten Vertriebenen. Suizid, Emigration oder Ermordung durch die NS-Schergen waren die Folgen. „Aber schon zwischen 1933 bis 1938 wurden an der Universität Wien 25 Prozent der Professoren eingespart, 22 von 60 Professoren der medizinischen Fakultät“.
Niedergang begann vor NS-Machtübernahme
Nicht nur die Universitäten bzw. die medizinische Fakultät in Wien war von den der Vertreibung betroffen. Der Fokus auf Akademiker jüdischer Abstammung setzte schon vor der NS-Machtübernahme ein. „1934 waren etwa 190.000 Österreicher jüdischer Abstammung. Das waren 2,8 Prozent der Bevölkerung, in Wien waren es zehn Prozent (92 Prozent der Menschen jüdischer Abstammung in Österreich lebten in Wien; Anm.). 1936 gab es laut NS-Angaben 8.170 Ärztinnen und Ärzte in Österreich, davon 4.550 in Wien. Es gab schon im Austrofaschismus deutliche Säuberungsmaßnahmen“, sagte Ilse Reiter-Zatloukal.
Im Austrofaschismus warf man bereits in Wien sozialdemokratische Ärztinnen und Ärzte (politisch „Missliebige") aus ihren beruflichen Positionen. „Fast alle von ihnen waren jüdischer Abstammung. Seit 1937 war eine Neueinstellung von jüdischen Ärzten wegen der Notwendigkeit der Vorlage eines Taufscheins unmöglich. 1937 erklärten sich in Wien bereits drei Spitäler 'judenfrei'“, sagte die Rechtshistorikerin.
Die schärfsten Demütigungen fanden dann unmittelbar nach dem „Anschluss“ mit den „Reibepartien“ statt. Der bekannte Arzt und Sanatoriumsbesitzer Lothar Würth musste am 13. März 1938 vor seinem Sanatorium in Wien den Gehsteig „säubern“. Am Tag darauf begingen er und seine Frau Selbstmord. „Nichtzulassung zum Eid auf den Führer“ war die nächste Maßnahme, welche eine weitere Anstellung in Spitälern unmöglich machte. Die „Neuordnung des Berufsbeamtentums“ ließ alle „Beamten“ (auch Spitalsärztinnen und Spitalsärzte durch analoge Anwendung) mit jüdischem Familienhintergrund Opfer der Vertreibung werden. Niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte wurden die Anstellungs-Krankenkassenverträge gekündigt.
NS-Machthaber in Österreich radikaler und schneller
Laut Ilse Reiter-Zatloukal waren die österreichischen NS-Machthaber viel radikaler und schneller als die NS-Kriminellen in Deutschland. „Mit 1. Oktober 1938 wurde bereits Entjudung der österreichischen Ärzteschaft verkündet. 4.200 Mediziner waren NS-Verfolgte, 93 Prozent davon mit Lebensmittelpunkt in Wien. (...) 81 Prozent waren jüdischer Abstammung.“ 1.244 Ärztinnen und Ärzten gelang die Flucht in die USA, 371 kamen nach Großbritannien, 220 konnten nach Palästina fliehen, 79 nach Südamerika. Nur 150 der Verfolgten überlebten in Österreich, 260 starben (zu einem beträchtlichen Teil durch Suizid). 326 Ärzte wurden aus Wien deportiert, nur 44 schließlich 1945 aus Konzentrationslagern befreit.
Übrig blieben nach 1945 an vielen Positionen und Orten die Nationalsozialisten und ehemaligen Austrofaschisten in Ärzteschaft und Bürokratie. „Von 29 Professoren der Medizinischen Fakultät in Wien waren 24 nach 1945 von der Entnazifizierung betroffen“, sagte Taschwer. Die Chance einer „Stunde Null“ sei vertan worden - auch weil nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes teilweise politisch aus dem Austrofaschismus stammende, antisemitische Personen an die Machthebel der Wissenschaftspolitik in Österreich kamen.
„Dem Vergessen entreißen“
Reiter-Zatloukal wirft mit dem Forschungsprojekt „Ärzte und Ärztinnen in Österreich 1938-1945 - Entrechtung, Vertreibung, Ermordung“ erstmals Licht auf die Schicksale von Ärztinnen und Ärzten, die während der NS-Zeit in ganz Österreich verfolgt wurden. „Es ist notwendig und wünschenswert, alle Verfolgten und Vertriebenen dem Vergessen zu entreißen“, sagte die Projektleiterin Anfang 2019 im Gespräch mit „medinlive“.
Während Freud und Loewi als prominenteste Beispiele für die im NS-Staat verfolgten österreichischen Mediziner gelten, blieben die Geschichten zahlreicher anderer verfolgter Ärztinnen und Ärzte bis dato unerzählt. Ihren Schicksalen widmet sich nun erstmals dieses Forschungsprojekt, an dem die Wiener Ärztekammer beteiligt ist. Unter der Leitung von Reiter-Zatloukal und der Historikerin Barbara Sauer wurden die Biografien aller zwischen 1938 und 1945 verfolgten Ärztinnen und Ärzte dokumentiert. Darunter das Ärzteehepaar Fenyes.
Das Schicksal des Ärzteehepaars Fenyes
Frieda Fenyes kam am 11. November 1900 als Frida (auch: Frieda) Fischer in Szenc, Ungarn (heute Senec, Slowakei) zur Welt, dem Jahr, in dem das Medizinstudium für Frauen in Österreich geöffnet wurde. Das Studium der Medizin an der Universität Wien schloss sie am 2. März 1928 mit der Promotion ab. Zum Zeitpunkt des „Anschlusses“ lebte sie bei ihrer Mutter Netti Fischer im 2. Wiener Gemeindebezirk an der Adresse Große Sperlgasse 40, der Vater Nathan Fischer war 1936 gestorben. Nachdem Dr. Fischer zunächst als Sekundarärztin im Allgemeinen Krankenhaus tätig gewesen war, arbeitete sie knapp fünf Jahre als Ärztin in der Lungenheilanstalt Baumgartner Höhe. Sie stand kurz davor, als Fachärztin für Lungenerkrankungen anerkannt zu werden, als es zum „Anschluss“ kam. Mit 30. Juni 1938 wurde sie entlassen.
Im Juli 1938 heiratete sie im Stadttempel Wien ihren Kollegen Dr. Georg Fenyes, der am 11. April 1898 in Kaschau/Kassa, Ungarn (heute Košice, Slowakei) geboren worden war, ebenfalls an der Universität Wien studiert hatte und am 2. Juni 1927 promoviert worden war. Auch er war als Anstaltsarzt in der Lungenheilstätte Baumgartner Höhe tätig gewesen, jedoch bereits nach der Ermordung von Dollfuss entlassen worden, angeblich weil er nicht in Wien geboren war, wie Frida Fenyes in den 1960er-Jahren an die österreichischen Stellen schrieb. Er hatte sich sodann niedergelassen und eine Privatpraxis geführt. Im Zuge des Novemberpogroms wurde Georg Fenyes verhaftet und nach Dachau deportiert, von wo er nach drei Monaten entlassen wurde und nunmehr bei Frieda und ihrer Mutter Unterkunft fand, nachdem seine Wohnung und Ordination, die sich ebenfalls im 20. Bezirks am Brigittaplatz 18 befunden hatten, in der Zwischenzeit bereits neu übernommen worden waren.
Im August 1939 konnte das Ehepaar Fenyes nach Großbritannien ausreisen. Fridas Mutter Netti Fischer wohnte noch bis zum 20. November 1939 an der Adresse Große Sperlgasse 40, dann musste sie in das jüdische Altersheim in der Malzgasse übersiedeln und am 25.6.1942 in dasjenige in der Seegasse 9. Von dort wurde sie im Mai 1943 nach Theresienstadt deportiert, wo sie vermutlich umkam. Frida und Georg Fenyes blieben in England bis sie am 1. April 1940 in die USA einreisen konnten, wo sie sich in Chicago niederließen. Zwar konnte Frida Fenyes in Amerika noch nostrifizieren, wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes war es ihr aber nicht möglich, als Ärztin zu arbeiten. Ihr Herzklappenfehler hatte sich durch die Flucht stark verschlechtert, zudem musste sie sich in den 1950er-Jahren einer Fußoperation unterziehen. Auch litt sie unter Depressionen. Ihr Mann hingegen arbeitete in den USA als niedergelassener Arzt bis zu seinem frühen Tod am 27. Juni 1954 in Chicago. Frida starb im Februar 1980 in Chicago.
Das Schicksal des Ärzteehepaares Fenyes ist nur eines von vielen, das jüdische Ärztinnen und Ärzte mit dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich ereilt hatte. Gleichzeitig sind es auch zwei der Biographien, die im Zuge des Forschungsprojektes „Arzte und Ärztinnen in Österreich 1938-1945 - Entrechtung, Vertreibung, Ermordung“ dokumentiert wurden.
Verfolgung hinterließ „tiefes Loch“
Bisher habe man 4.230 verfolgte Ärzte und Ärztinnen identifizieren können, von denen viele (rund 81%) als „jüdisch“ gegolten hatten, resümierte Reiter-Zatloukal bei einer Podiumsdiskussion Anfang 2019 beim Wiener Com.sult Kongress. „Der Großteil der Kliniken war danach praktisch leer“, ergänzte Ärztekammerpräsident Thomas Szekeres. „Der Bruch mit der Medizin ist einher gegangen mit der Vertreibung und Verfolgung der jüdischen Ärztinnen und Ärzte“, so Szekeres. 1938 waren in Wien fast 5.000 Ärztinnen und Ärzte tätig, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren es gerade noch 450. Wien sei bis 1938 das „Mekka der Medizin“ gewesen. Trotz größter Anstrengungen habe man nach 1945 international nicht annähernd das medizinische Niveau wieder erreicht, das Wien vor dem „Anschluss“ gehabt hatte. Das habe ein „tiefes Loch hinterlassen“. „Es ist unvorstellbar, dass Menschen, die einen Beruf gewählt haben, um anderen zu helfen, aufgrund ihrer Religion oder ihrer politischen Einstellung oder sexuellen Ausrichtung umgebracht werden“, fuhr er fort.
Die Auseinandersetzung erfolge „viel zu spät“, räumte Szekeres ein und verwies auf den Fall Heinrich Gross, der während der Zeit des Nationalsozialismus als Stationsarzt an der Wiener Euthanasie-Klinik „Am Spiegelgrund“ beschäftigt war. Auch in Ärztekreisen genoss der Arzt zeitlebens hohes Ansehen. Von der Ärztekammer wurde er damals beschützt, führte Szekeres aus. „Da hat es einiges gegeben, auf das wir nicht stolz sein können“, gestand Szekeres ein. Der Fall Gross ist ein Beispiel dafür, wie schwer sich die ärztliche Standesvertretung beziehungsweise die Ärzteschaft im Gesamten mit der Aufarbeitung der NS-Zeit tut.
„Weniger Bekannten“ dem Vergessen entreißen
„Der Auslöschung der Namen wollten wir entgegentreten“, sagte Reiter-Zatloukal. Über bekannte verfolgte Ärzte, wie Sigmund Freud, sei bereits viel geschrieben worden. Mit dem aktuellen Projekt wolle man nun die „weniger Bekannten dem Vergessen entreißen“. Anhand der Akten in den Archiven und Berichten von Familienmitgliedern und Bekannten wurden die Biografien rekonstruiert. Viele seien ins Ausland geflohen, andere ermordet worden. „Wir haben die Namen und Schicksale wieder hervorgebracht, ihrer wird so gedacht“, sagte sie.
Mit den Forschungsergebnissen wolle man zum Nachdenken anregen. „Wir müssen darauf aufpassen, dass nicht wieder die Rechte zum Schutz von Menschen abgebaut werden“, so die Wissenschafterin. Gerade heutzutage sei es wichtig, Versuche, den Rechtsstaat und die Menschenrechte zu untergraben, rechtzeitig zu erkennen. „Wir haben zum Glück in Österreich noch einen funktionierenden Rechtsstaat mit Menschenrechten“, sagte sie. Gegenüber „medinlive“ erläutert Reiter-Zatloukal weitere Beweggründe und Bedeutung des Projekts für die Ärzteschaft.
medinlive: Was war der Anstoß /Antrieb für das Projekt?
Reiter-Zatloukal: Antrieb für das Projekt war das Forschungsdefizit hinsichtlich der Erfassung aller vom NS verfolgten Ärzte und Ärztinnen in Österreich. Zwar gab es Vorarbeiten bzgl. der in der NS-Zeit rassistisch verfolgten Mediziner Wiens, eine umfassende rechtshistorische und biografische Aufarbeitung war aber bislang nicht erfolgt. Nach Fertigstellung der „Advokaten 1938“ entstand also die Idee, auch diesen Berufsstand einer umfassenden Untersuchung zu unterziehen.
Den konkreten Anstoß dazu gab unser (Reiter-Zatloukal & die Historikerin Barbara Sauer, Anm.) Aufenthalt in Israel, wo wir das Buch „Advokaten 1938“ auch im „Österreichischen Club“ in Tel-Aviv präsentierten. Nach unserem Vortrag fragte uns ein anwesender Zahnarzt, Dr. Haim Galon, warum es ein derartiges Buch nicht auch über Ärztinnen und Ärzten, die von den Nationalsozialisten verfolgt wurden, gebe. Wir bestätigten, dass dies ein Desiderat sei, erzählten, dass wir solch ein Projekt durchaus überlegten, dass man aber zunächst die Ärztekammer dafür gewinnen müsse. Er bot uns an, bei seinem nächsten Wien-Aufenthalt diesbezüglich vorzufühlen, was er auch tat. Die Wiener Ärztekammer sagte ihm zu, die Recherche ideell zu unterstützen, woraufhin wir begannen, dafür Drittmittel einzuwerben, zu welchen schließlich auch die Wiener Ärztekammer und geringfügig auch einzelne Ärztekammern anderer Bundesländer finanziell beitrugen. Hauptförderer waren schließlich der Jubiläumsfonds der Nationalbank, der Zukunftsfonds der Republik Österreich, der Nationalfonds der Republik und die Wiener Ärztekammer.
medinlive: Welche Methoden und Quellen wurden genutzt, um Daten zu gewinnen?
Reiter-Zatloukal: Die vorliegende wissenschaftliche Literatur wurde sehr gründlich erfasst, nicht nur hinsichtlich der NS-Verfolgung von Ärztinnen und Ärzten, sondern auch unter Aspekten wie z.B. Wissenschaftsmigration. Es wurden Untersuchungen zu den Aufnahmeländern der Geflüchteten ebenso herangezogen wie zahlreiche Lokalstudien zu den österreichischen Regionen. Kooperationen und Austausch mit einer Vielzahl von Personen sowie Institutionen im In- und Ausland erwiesen sich als überaus fruchtbar, wenngleich äußerst zeitaufwendig. Kern der Recherche waren jedoch die Untersuchungen in einer Vielzahl von Archiven: das Österreichische Staatsarchiv, die Landesarchive, in einigen Bundesländer bewahren die Ärztekammern historische Unterlagen auf, die eingesehen werden konnten, das Bundesarchiv in Berlin, das Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien, die Archive zahlreicher Städte und Gemeinden, das Dokumentationsarchiv der Österreichischen Widerstands, die Universitätsarchive, die Bildarchive der MedUni Wien, der Österreichischen Nationalbibliothek etc. Zunehmend bedeutend ist auch die Recherche im Internet, weil eine wachsende Menge an Informationen – vorwiegend in Datenbanken sowie durch Digitalisate – online verfügbar gemacht wird.
Eine weitere Methode zur Datengewinnung bestand im „Netzwerken“, erläuterte Barbara Sauer im Gespräch mit Marion Wittfeld vom UNI:VIEW Magazin der Universität Wien. So kooperierten die Wissenschafterinnen nicht nur mit einschlägig arbeitenden Fachkollegen im In- und Ausland sowie Einrichtungen wie dem „Gedenkdienst“, sondern auch intensiv mit der Wiener und auch ausländischen Ärztekammern. „Wir haben z.B. in Mitgliederzeitschriften der Ärztekammern Inserate geschaltet. Die Annahme, dass einige Kinder verfolgter Ärztinnen und Ärzten den gleichen Beruf gewählt haben, erwies sich als richtig. Feedback haben wir zum Beispiel bereits aus Israel, den USA, Dänemark und der Schweiz erhalten“, so Barbara Sauer und ergänzt: „Die Suche nach Nachkommen ist oft mühsam. Aber die bewegenden Kontakte zu den Angehörigen sehe ich als Lohn der Knochenarbeit an. Das Gedenken an die Opfer kann nur kollektiv ermöglicht werden.“
Die so erhobenen Informationen wurden in einer Datenbank gesammelt, was nun einerseits die Abfassung einzelner Biografien unter Nennung der Quellen erlaubt, andererseits die statistische Auswertung nach unterschiedlichen quantifizierenden Kriterien.
medinlive: Welchen Beitrag haben Angehörige/Nachkommen geleistet. Wie viele haben sich gemeldet?
Reiter-Zatloukal: Bei Projektbeginn waren keine selbst von der NS-Verfolgung betroffene Personen, die 1938 bereits promoviert hatten, mehr am Leben. Daher kam den Angehörigen der Ärzte und Ärztinnen besondere Bedeutung zu. Sie können Informationen liefern, die aus Archivalien kaum zu gewinnen sind, wie beispielsweise die Schwierigkeiten bei der (beruflichen) Neuetablierung nach gelungener Flucht: So steht – selbst wenn ein solcher zu finden ist – in einem Lebenslauf gewöhnlich nur, welche Stellen eine Person inne hatte, nicht aber wie viele erfolglose Bewerbungen dem Neubeginn einer ärztlichen Tätigkeit vorausgegangen waren. Besonders wichtig waren die Angehörigen auch für die Zurverfügungstellung von Photos, weil in den Bildarchiven meist nur Porträts wissenschaftlich tätiger oder aus anderen Gründen berühmter Betroffener vorhanden sind.
medinlive: Welche Rolle spielte Haim Galon?
Reiter-Zatloukal: Haim Galon fungierte einerseits als „Eisbrecher“ bei der Kontaktaufnahme mit der Wiener Ärztekammer, die daher auch das Epitheton ornans des Projekt-„Masterminds“ für Haim Galon prägte, andererseits übernahm er teilweise auch die Aufgabe, in Israel Nachkommen von Ärztinnen und Ärzten aus Österreich ausfindig zu machen, zu welchem Zweck er sich an die Ärztegewerkschaft wandte und ein Zeitungsinserat schaltete. Auch erstellte er aus einem nur in Hebräisch erschienenen themenrelevanten Buch eine Liste von jüdischen Ärztinnen und Ärzten, die aus Österreich nach Palästina/Israel geflüchtet waren.
medinlive: Was war besonders herausfordernd bei dem Projekt?
Reiter-Zatloukal: Die Herausforderungen bei der Durchführung des Projekts waren vielfältig: Zunächst ist hier die Tatsache zu erwähnen, dass – abgesehen von Wien – in keinem Bundesland die historischen Unterlagen erhalten sind, aus denen die Namen der 1938 aus den Ärztekammern als „jüdisch“ gelöschten Personen zu entnehmen wären. Ein Gesamtverzeichnis der im Land Tätigen wurde von der Österreichischen Ärztekammer überhaupt erst nach 1945 angelegt. Die Namen der Betroffenen mussten daher auf „Umwegen“ aus einer Vielzahl von Quellen rekonstruiert werden, und es ist trotz größter Sorgfalt anzunehmen, dass nicht alle Namen ermittelt werden konnten. Die aufgrund ihrer politischen, weltanschaulichen oder religiösen Einstellung Verfolgten wurden gewöhnlich nicht aus den Ärztekammern ausgeschlossen, waren aber vielfältigen Repressionen und Diskriminierungen ausgesetzt. Diese sind ebenso wenig wie andere Opfergruppen – Angehörige ethnischer Minderheiten, aufgrund ihrer sexuellen Orientierung Verfolgte, Euthanasie-Opfer – zentral registriert, bzw. enthalten fallweise vorhandene Aufstellungen keine akademischen Titel und/oder Angaben zu den Berufen. Die Erfassung und Auswertung der persönlichen Daten von rund 4.500 Personen bedeutete einen gigantischen Arbeitsaufwand. (Die Differenz zur Zahl von 4.200 im biografischen Teil der Publikation angeführten Betroffenen erklärt sich daraus, dass sich als Ergebnis der Recherchen in rund 300 Fällen herausstellte, dass die Person vor März 1938 verstorben war, bereits vor dem „Anschluss“ das Land verlassen hatte oder aus anderen Gründen nicht als NS-verfolgt anzusehen ist, Anm.)
Wie im Verlauf der Recherchen erhoben werden konnte, gab es bei der Ärzteschaft „Abstufungen“ der Verfolgung, anders als bei der zuvor untersuchten Berufsgruppe der Rechtsanwälte. Während das NS-Regime hier nur eine Repressionsmaßnahme anwendete – Ausübungsverbot der Rechtsanwaltschaft – durften Ärztinnen und Ärzte, die als politisch unzuverlässig oder als „Mischlinge“ galten oder verfolgte Ehepartner hatten, ihren Beruf zwar weiterhin ausüben, verloren aber ihre Kassenverträge und Anstellungen und wurden in möglichst weit entfernte Gebiete versetzt.
medinlive: Welche Bedeutung/Nachwirkung hat das Projekt?
Reiter-Zatloukal: Erstmals werden alle zwischen 1938 und 1945 aus „rassischen“ und politischen Gründen, wegen ihrer sexuellen Orientierung oder Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft diskriminierten und verfolgten Ärztinnen und Ärzte, soweit quellenmäßig eruierbar, erfasst und ihre individuellen Schicksale rekonstruiert. Der Fokus liegt dabei sowohl auf dem beruflichen Werdegang der Betroffenen als auch auf ihren weiteren Lebenswegen nach März 1938.
Mit der Publikation wird so einerseits eine umfassende rechtshistorische Aufarbeitung der Entrechtungs- und Verfolgungsmaßnahmen geleistet, andererseits wird im repräsentativen biografischen Teil der betroffenen Ärzte und Ärztinnen gedacht.
medinlive: In welchem Stadium befindet sich das Projekt zurzeit?
Reiter-Zatloukal: Zum Abschluss des Projekts wird eine umfangreiche Publikation im Verlag der Ärztekammer für Wien erscheinen. Diese enthält einerseits Beiträge von Reiter-Zatloukal und Sauer sowie einer Reihe internationaler und österreichischer Autorinnen und Autoren zu Themen wie der „Säuberung“ der drei medizinischen Fakultäten, den wichtigsten Exilländern, der medizinischen Versorgung der jüdischen Bevölkerung durch sogenannte „Krankenbehandler“ nach dem „Anschluss“, beispielhaft zu den Zahnärzten und Zahnärztinnen, der Situation im „Altreich“ und der Nazifizierung der Ärzteschaft. Andererseits umfasst das Buch die (Kurz-) Biografien der rund 4.200 betroffenen Ärzte und Ärztinnen.
medinlive: Wie wichtig ist die Aufarbeitung dieses Themas?
Reiter-Zatloukal: Wie der österreichische Historiker und Schriftsteller Doron Rabinovici feststellte, zählt „nicht gedacht soll deiner werden“ zu den schlimmsten Flüchen, die das Judentum kennt. Daher ist es notwendig und wünschenswert, die Verfolgten und Vertriebenen dem Vergessen zu entreißen. Das Gedenken aller Opfer des NS-Regimes – aus welchen Gründen auch immer sie Verfolgung zu erleiden hatten – ist daher eine bedeutende Aufgabe des Projekts und der Publikation.
Zudem ermöglicht die umfassende Aufarbeitung der Mechanismen von Repression und Verfolgung auch erhöhte Wachsamkeit gegenüber solchen Tendenzen in Gegenwart und Zukunft, sei es in Österreich oder in anderen Ländern. „Denn man kann nur Lehren ziehen, aus dem, was man nicht vergisst“ (André Heller).