Medizinhistorische Streifzüge – Folge 4

Die Wiener Poliklinik

Welche berühmten Ärzte arbeiteten in der Wiener Poliklinik, warum war sie jahrzehntelang Anlaufstelle für weniger „interessante“ Fälle und welchen Bezug gibt es zur Literatur der Wiener Moderne? Regelmäßig begibt sich Hans-Peter Petutschnig bei medinlive auf eine Zeitreise zu den Spuren der alten Wiener Medizin. In dieser Folge: Die wechselvolle Geschichte der Wiener Allgemeinen Poliklinik.

Hans-Peter Petutschnig

An der Adresse Mariannengasse 10 im 9. Wiener Gemeindebezirk befand sich bis 1998 die 1872 von zwölf jungen Universitätsassistenten gegründete Poliklinik – sie war damals die erste ihrer Art in Europa. Das Besondere war, dass man um eine Abdeckung verschiedener medizinischer Bereiche bemüht war, denn in den meisten europäischen Ländern waren die Polikliniken auf nur einen Bereich spezialisiert. Daher nannte man die Wiener Institution auch Allgemeine Poliklinik.

Als Poliklinik bezeichnete man eine Krankenhausabteilung zur ambulanten Behandlung von Patientinnen und Patienten. Ursprünglich war eine Klinik ein Krankenhaus, das hauptsächlich der Unterrichtung von Medizinstudenten diente. Aufgenommen wurden deshalb vor allem Patientinnen und Patienten, deren Krankheit interessant für die Ausbildung war. Die Poliklinik war jener Teil der Klinik, in dem die Bürger der Universitätsstadt (polis) eingewiesen wurden, die weniger „interessante“ Fälle waren.

Ursprünglich in der Wipplingerstraße im 1. Bezirk untergebracht, wurden bereits im ersten Jahr 12.000 Kranke kostenlos ambulant behandelt. Die Kosten des Betriebs wurden zuerst von den Gründern selbst getragen. Vier Jahre später wurde dann ein Verein zur Finanzierung gegründet, der Spenden sammelte.

Die Poliklinik übersiedelte mehrfach: Von der Wipplinger Straße ging es zunächst in die Oppolzergasse und 1880 dann in die Schwarzspanierstraße, bereits im 9. Bezirk, wobei hier auch bereits der erste stationäre Krankenhausbetrieb mit fünf Betten aufgenommen wurde. In das Gebäude in der Mariannengasse 10, in dem sie bis zum Schluss verblieb, zog die Poliklinik 1892.

Poliklinik
Die Poliklinik in der Mariannengasse 10 im 9. Wiener Gemeindebezirk – sie war damals die erste ihrer Art in Europa.


© Stefan Seelig

 

Nach dem Vorbild der Wiener Poliklinik entstanden um die Jahrhundertwende zahlreiche Kliniken in ganz Europa. Dabei war die Wiener Poliklinik immer wieder Vorreiter bei neuen Therapien. So wurde unter Wilhelm Winternitz 1872 die erste hydrotherapeutische Bettenstation der Welt eingerichtet. Im selben Jahr wurde Johann Heller Leiter der „Abteilung für chirurgische Krankheiten, besonders der Harnorgane“. Heller war einer der Wegbereiter der urologischen Labordiagnostik. 1889 gründete Anton von Frisch die erste Urologische Ambulanz Europas und erreichte, dass die Urologie als eigenes Fach an der Wiener Universität installiert wurde. Ab 1896 gab es ein Röntgenkabinett, das sich 1904 zum ersten Röntgeninstitut Österreichs entwickelte.

In der Wiener Poliklinik arbeitete auch der junge Arthur Schnitzler, dessen Vater Leiter der Laryngologischen Abteilung und ab 1884 bis zu seinem Tod 1893 ärztlicher Direktor der Klinik war. Arthur Schnitzlers 1912 geschriebenes Werk „Professor Bernhardi“ hatte die Poliklinik zum Vorbild. In dem Stück werden Antisemitismus, Probleme der Ethik und der Jurisprudenz sowie des Katholizismus behandelt. Professor Flint, Minister für Kultus und Unterricht in „Professor Bernhardi“, trägt Züge des Wiener Bürgermeisters Karl Lueger. Die Uraufführung fand 1912 in Berlin statt. Wegen des systemkritischen Inhalts waren Aufführungen in der Donaumonarchie bis zu ihrem Zerfall 1918 verboten.

Arthur Schnitzler
Arthur Schnitzler, etwa 1912, fotografiert von Ferdinand Schmutzer  


© Details Foto   Details Fotograf
QS:P170,Q370800, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons

 

Ab 1938 war die Poliklinik im Besitz der Gemeinde Wien. Sie wurde kurz als Geriatrisches Rehabilitationszentrum verwendet, dann aber Ende 1998 endgültig geschlossen. Auf dem Gelände, das außer dem Gebäude in der Mariannengasse weitere angrenzende Flächen bis zur Lazarettgasse umfasste, wurde das Vienna Competence Center als Standort für Forschungseinrichtungen und Unternehmen aus den Bereichen Medizin, Biomedizin, Medizintechnik und ergänzenden Dienstleistungsgebieten errichtet.

Heute greift das VIENNA Policenter seine Geschichte auf und stellt Büroflächen für Gesundheitsdienstleistungen, aber auch für innovations- und technologieorientierte Firmen zur Verfügung. Zehn Unternehmen haben sich mittlerweile hier angesiedelt, unter anderem auch die PRISMA Wien, die mittels aktivem Standortmanagement eine zuverlässige Betreuung der Nutzer sowie eine Weiterentwicklung des Standorts garantiert.

An der Fassade des Hauses sind 13 Keramikmedaillons und Namenstafeln berühmter Ärzte angebracht, darunter Carl von Rokitansky und Josef von Škoda.

 

 

Hans-Peter Petutschnig ist seit vielen Jahren für die Pressearbeit und den Verlag der Wiener Ärztekammer verantwortlich. Er ist zudem stellvertretender Kammeramtsdirektor der Ärztekammer für Wien und organisiert zahlreiche kulturelle Veranstaltungen für Ärztinnen und Ärzte. Zusammen mit der staatlich geprüften Wiener Fremdenführerin sowie Kunst- und Kulturvermittlerin Bibiane Krapfenbauer-Horsky hat er das Buch „Auf den Spuren der alten Heilkunst in Wien – Medizinische Spaziergänge durch die Stadt“ verfasst.

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Hans-Peter Petutschnig, seit vielen Jahren für die Pressearbeit und den Verlag der Wiener Ärztekammer verantwortlich, begibt sich nun regelmäßig bei medinlive auf eine Zeitreise zu den Spuren der alten Wiener Medizin.
Stefan Seelig
Nach dem Vorbild der Wiener Poliklinik entstanden um die Jahrhundertwende zahlreiche Kliniken in ganz Europa. Dabei war die Wiener Poliklinik immer wieder Vorreiter bei neuen Therapien.