Hebamme

Justine Siegemund: Autorin des ersten Lehrbuchs für Geburtshilfe

Es war das Jahr 1657. Justine Siegemund war zarte 21 Jahre alt und schwanger, so dachte ihr Umfeld. Die Tochter eines evangelischen Pfarrers wurde daraufhin über mehrere Tage von verschiedenen Hebammen zur Geburt gezwungen. Schließlich stellte sich heraus, dass die junge Frau gar nicht schwanger war. Um anderen Frauen dieses Leid zu ersparen, lernte Siegemund den Beruf der Hebamme. Dank ihres Wissens schaffte sie es zur Geburtshelferin am brandenburgischen Hof und schrieb das erste Lehrbuch für Geburtshilfe.

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Die Arbeit der Hebamme war zur damaligen Zeit noch nicht professionalisiert und beruhte auf traditionellem Wissen gebärender und Geburtshilfe leistender Frauen. Siegemund lernte autodidaktisch von Büchern und Abbildungen und im Austausch mit anderen Hebammen. Dank der gehobenen Stellung ihres Ehemannes war Siegemund nicht auf Honorare angewiesen und konnte sich über viele Jahre ein beträchtliches Wissen und Erfahrung auf diesem Feld aufbauen.

Ihr Ruf eilte ihr voraus und sie wurde häufig zu schweren Geburten geholt. 1670 wurde sie auf Betreiben eines Arztes zur Stadt-Wehemutter in Niederschlesien (heute: Polen) bestellt. Dort rettete sie der von Ärzten erfolglos behandelten Herzogin Luise von Anhalt-Dessau das Leben, indem sie ihr ein Gebärmuttergewächs entfernte. Bis zum Tod der Herzogin hatte die Hebamme daraufhin Unterhalt an deren Hof. Aufgrund ihrer Freistellung und des guten Rufes wurde Siegemund nicht nur innerhalb Schlesiens, sondern auch aus Sachsen angefordert.

Trotz ihrer geschützten Stellung war Siegemund immer wieder mit Anfeindungen männlicher Kollegen konfrontiert. Da das lukrative Feld der Geburtshilfe immer stärker in den Fokus männlicher Ärzte rückte, wurde versucht ihre Expertise zu schmälern. Ein Angriff kam etwa von dem öffentlich angestellten Liegnitzer Stadtarzt Martin Kerge, der Siegemund 1680 gewalttätige geburtshilfliche Praktiken bezichtigte. Konkret warf er ihr vor, Geburten zu beschleunigen, und begründete dies mit ihrem ungewöhnlich großen Tätigkeitsradius.

Erstes deutsches Lehrbuch für Geburtenhilfe

Im Jahr 1683 wurde Siegemund als Chur-Brandenburgische Hof-Wehemutter an den Hof von Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620-1688) berufen. Sie betreute dort hauptsächlich Hofangehörige, wurde aber auch an andere Höfe ausgeliehen. 1690 veröffentlichte Siegemund schließlich das erste deutsche Lehrbuch für Hebammen mit dem Titel „Die Chur-Brandenburgische Hoff-Wehe-Mutter/ Das ist: Ein höchst-nöthiger Unterricht/ Von schweren und unrecht-stehenden Geburten“. In diesem Werk, das sich besonders den „schweren Geburten“ widmete, schilderte Siegemund in 40 ganzseitigen Abbildungen den Verlauf einer Geburt, erklärt Gesichts- und Beckenlagen eines Kindes und schilderte verschiedene Untersuchungen sowie Handgriffe. Der „gedoppelte Handgriff der Siegemundin“ ist bis heute ein nach ihr benannter Begriff, der zur Anwendung kam, wenn das Kind quer oder schräg lag und die Fruchtblase geplatzt war.

Das Werk zählt zu den bedeutendsten im 17. Jahrhundert auf Deutsch abgefassten geburtshilflichen Werken und diente fast ein Jahrhundert lang deutschsprachigen Wehemüttern und Ärzt:innen als fundierte praktische Beratung und wissenschaftliche Inspiration. Bis zu ihrem Tod am 10. November 1705 in Berlin brachte Siegemund laut Leichenpredigt 6.199 registrierte Kinder - 20 davon waren fürstlicher Abstammung - sicher zur Welt. 

Justine Siegemund
Justine Siegemund (*26.12.1636 Jauer/Jawor, Niederschlesien, heute: Polen, gest. 10.11.1705 Berlin) stammte aus einer bildungsbürgerlichen Familie in Rohnstock/Roztoka (Niederschlesien, heute: Polen);.
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