An wen konnten sich Menschen im Mittelalter bei Schmerz und Krankheit wenden, welche Funktion hatten dabei die Heiligen und was hat es mit dem sogenannten „Kolomani“-Stein auf sich? Regelmäßig begibt sich Hans-Peter Petutschnig bei medinlive auf eine Zeitreise zu den Spuren der alten Wiener Medizin. Dabei gibt es viel zu entdecken, längst Vergangenes, mitunter Skurriles, Schockierendes oder auch Prägendes, oft gut verborgen unter baulichen Veränderungen der letzten Jahrhunderte. In dieser Folge: Die Bedeutung der Kirche bei körperlichen und seelischen Qualen.
Hans-Peter Petutschnig
„Ich bin die Tür der Schafe; wer durch mich hineingeht, wird ein- und ausgehen und Weide finden.“ – Es ist der Locus classicusaus dem Johannesevangelium, die Schriftätiologie für jede christologisch gedeutete Tür schlechthin.
„Jesus als die Tür – durch Jesus hineingehen: Damit erhält die Tür zur Kirche eine zentrale heilsvermittelnde Bedeutung.“ Was im Evangelium abstrakte Metapher war, werde nun konkret architektonisch umgesetzt. So beschrieb einmal der evangelische Kirchenhistoriker Martin Walraff die Bedeutung von Kirchenportalen. Aus christlicher Sicht werde damit „eine neue Stufe der theologischen Sinnverdichtung“ erreicht.
Dieses Konzept lässt sich tatsächlich an den meisten Kirchen des Mittelalters erkennen – der Stephansdom macht da keine Ausnahme. Die Baumeister dieses wohl prominentesten Wahrzeichens von Wien wussten sehr genau, was auf die Menschen Eindruck machte. Kein Heiliger, kein Fabelwesen, keine Ornamentik passierte zufällig. Und vieles hatte mit dem Versprechen zu tun, durch den Übertritt ins Innere Erleichterung zu finden – bei körperlichen wie auch bei seelischen Qualen.
Im mittelalterlichen Verständnis war der Mensch nur ein kleines Sandkorn im Dasein. Man wollte und konnte Gott Vater nicht mit seinen Alltagsorgen, zum Beispiel Krankheit und Schmerzen, belästigen. Aber es gab Vermittler: die Heiligen. Allein im Stephansdom befinden sind insgesamt 107 Heiligenfiguren – genügend Möglichkeiten also für die Gläubigen, um für ihr Seelenheil zu beten.
Heute betreten Gläubige und Besucher den Dom meist durch das zentrale Riesentor – der Name hat übrigens nichts mit dessen imposanter Größe zu tun, sondern bezieht sich auf die Trichterform des nach innen tief und schräg abfallenden Portals (mittelhochdeutsch „risen“, was so viel bedeutet wie „sinken“, „fallen“. Die Gläubigen des Mittelalters jedoch betraten meist von der Seite aus den Dom, zum Beispiel durch das Bischofstor. Die prunkvolle Pforte in der nördlichen Langhauswand wurde zwischen 1365 und 1373 fertiggestellt. Dort, direkt über der Schwelle des Tors, befindet sich noch immer der sogenannte „Kolomani-Stein“.
Viel ist über den irischen Heiligen, der um die vorvorige Jahrtausendwende gelebt haben und bei einer Pilgerfahrt ins Heilige Land als vermeintlicher Spion bei Stockerau gefangen und hingerichtet worden sein soll, nicht bekannt. Für die Menschen des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit jedoch hatte er eine große Bedeutung, schützte der heilige Koloman doch vor Krankheiten jeglicher Art.
Den Stein ließ Herzog Rudolf IV. im Zuge der Erweiterung der Kirche am 3. Mai 1361 einmauern. Der Überlieferung nach soll über dem Stein das Blut des Heiligen geflossen sein, was den Herzog dazu bewog, dort eine Reihe von Reliquien von Heiligen zu platzieren.
Die Verbundenheit des Herzogs zum Heiligen belegt auch der Umstand, dass sich Rudolf IV. im Gewände, unmittelbar oberhalb des Kolomani-Steins, in Stein abbilden ließ. Koloman war der erste Landespatron Österreichs und hatte damit eine wichtige Landesymbolik inne. In der Hand hält Rudolf IV. ein Modell seiner Kirche auf einem Tuch – was ihn als Kirchenstifter ausweist. Belege seiner weltlichen Macht sind Zepter und Bindenschild auf der Gürtelschnalle.
Rudolf IV. war der einflussreichste Habsburger des 14. Jahrhunderts. Trotz seiner kurzen Lebenszeit von knapp 26 Jahren prägte er in politischer und kultureller Hinsicht sein Herrschaftsgebiet nachhaltig, nicht nur mit dem Ausbau des Stephansdoms, sondern auch mit der Gründung der Wiener Universität, der „Alma Mater Rudolphina“, im Jahr 1365. Seit damals gibt es auch die Wiener Medizinische Fakultät.
Hans-Peter Petutschnig ist seit vielen Jahren für die Pressearbeit und den Verlag der Wiener Ärztekammer verantwortlich. Er ist zudem stellvertretender Kammeramtsdirektor der Ärztekammer für Wien und organisiert zahlreiche kulturelle Veranstaltungen für Ärztinnen und Ärzte. Zusammen mit der staatlich geprüften Wiener Fremdenführerin sowie Kunst- und Kulturvermittlerin Bibiane Krapfenbauer-Horsky hat er das Buch „Auf den Spuren der alten Heilkunst in Wien – Medizinische Spaziergänge durch die Stadt“ verfasst.