Entwicklungspsychologie

Maria Montessori: Eine Ärztin als Anwältin des Kindes

Ihr Name ist untrennbar mit Reformpädagogik verbunden: Kindern auf Augenhöhe zu begegnen statt sie, wie damals zeitgemäß, gnadenlos autoritär zu drillen, war Maria Montessoris Lebensaufgabe. Fundament ihrer Philosophie waren Montessoris prägende Jahre in der Psychiatrie: Italiens erste promovierte Ärztin beobachtete dort, welche Bedeutung das Lernen mit allen Sinnen für Kinder und ihre geistige und körperliche Gesundheit hat. Vor 70 Jahren starb sie 82-jährig an einer Hirnblutung.

Eva Kaiserseder

Viele, die selbst Kinder haben, kennen den Spruch, ziert er doch nicht wenige Kindergärtenwände: „Hilf mir, es selbst zu tun“ lautet das wohl berühmteste Zitat der Pädagogin und Ärztin Maria Montessori. Dieser Satz darf zu Recht auch als Kernaussage ihrer Arbeit gelten.

Als einzige Tochter wohlhabender Eltern 1870 nahe der italienischen Hafenstadt Ancona geboren, soll sie laut unterschiedlichen Aussagen ein recht willensstarkes, selbstbewusstes und durchaus auch selbstgefälliges Kind gewesen sein. Nach der Schule wollte die junge Maria unbedingt und gegen den Willen ihrer Eltern Medizin studieren. Im Italien der 1890er Jahre als Frau allerdings (noch) unmöglich. Montessori ließ sich dadurch aber nicht von ihrem Herzenswunsch abbringen, sondern studierte Mathematik und Ingenieurswesen, um danach,1892, ihr Medizinstudium beginnen zu können. Eine Pionierleistung. Den Vorlesungssaal durfte sie grundsätzlich nur als Letzte betreten und das Fach Anatomie war ebenfalls mit Hindernissen gespickt: Der Sezierung männlicher Leichen durfte eine Frau nämlich auf keinen Fall beiwohnen. Trotz dieser Hürden blieb Montessori am Ball, promovierte mit 26 Jahren und wurde damit Italiens erste „Dottoressa“. 

Der Wandel hin zur Pädagogin

Nach ihrer Promotion arbeitete Montessori zuerst als Assistenzärztin in der Kinderpsychiatrie einer römischen Klinik. Parallel engagiert sie sich in der Frauenbewegung für die Rechte der Frauen und hielt schon da Vorträge über die Wichtigkeit der weiblichen Emanzipation, ein Thema, das sie ein Leben lang begleiten sollte.

Im Rahmen ihrer Arbeit als Psychiaterin hatte sie viel und engen Kontakt zu Kindern in so genannten „Irrenanstalten“. Der Umgang mit den Kindern dort, das Verwehren jeglicher Eigeninitiative, die reizarme Umgebung, in denen die Kinder lebten, waren ihr ein Dorn im Auge. Erlebnisse wie etwa eine Gruppe geistig behinderter Kinder, die sich in einem ansonsten völlig leeren Raum auf Brotkrumen stürzen, einfach, um mit ihnen zu spielen, verdeutlichten Montessori die Wichtigkeit von geistiger Anregung und der Entfaltung aller Sinne. Kinder schlicht zu „verwalten“ und medikamentös zu betreuen, machte für sie als Ärztin keinen Sinn und brachte keine Verbesserung der Zustände für die Kinder. Und den Umgang mit behinderten Menschen fand sie schlicht entwürdigend. Diese Lehrjahre prägten sie als Person nachhaltig. Der geistige Wandel hin zur Pädagogin nahm Fahrt auf.

Montessori entwickelte in Folge dieser Erfahrungen Schritt für Schritt spezielle Lernmaterialien für Kinder, vor allem für beeinträchtigte, um deren Entwicklung zu fördern. Sie schrieb auch erstmals ihre Ideen nieder, die später der Grundstock ihres 1909 veröffentlichten Hauptwerkes „ll metodo della pedagogia scientifica“ (dt.„Die Entdeckung des Kindes“) werden sollen. Montessoris Ansehen wuchs und wuchs.

Eine private Zäsur gab es 1898: In diesem Jahr brachte sie ihren Sohn Mario zur Welt, allerdings unehelich, damals bekanntlich ein Unding. Marios Vater heiratete schließlich eine andere Frau, der Sohn kam, den gesellschaftlichen Umständen geschuldet, zu Pflegeeltern. Erst spät, mit 40, bekannte sich Montessori öffentlich zu ihm und setzte ihn als Erben ein. Mario lebte allerdings schon seit er ein Teenager war bei seiner Mutter (auch vorher hatte diese immer Kontakt mit ihm gehalten) und galt zeitlebens als Mitentwickler und Co-Organisator der Montessori-Bewegung.

Um Montessori selbst ranken sich einige Legenden, unter anderem diejenige, dass sie so gar keinen wissenschaftlichen Ehrgeiz hatte und eine Veröffentlichung ihrer Ideen, unter anderem der „Methode“, nur auf Drängen begeisterter Mitmenschen passierte. Diese Legende darf mit gutem Recht angezweifelt werden, sieht man sich Montessoris Biografie an: Ohne Ehrgeiz wäre sie nicht dorthin gekommen, wo sie sich einige Jahre nach der Jahrhundertwende befand, noch dazu als Frau im konservativen Italien. Zwischenzeitlich hatte sie nämlich das Studium der Anthropologie, Psychologie und Erziehungsphilosophie aufgenommen, um 1907 ein erstes Kinderhaus („Casa dei Bambini“) im römischen Armenviertel St. Lorenzo zu betreuen und zu leiten. Beeinflusst wurde sie dabei unter anderem von den Ideen des Arztes und Pädagogen Edouard Seguin, der als einer der ersten eine systematische Lehre für die Erziehung und Entwicklung geistig behinderter Kinder entworfen hatte. Seguins Leitidee war, dass „die tätige Hand die Intelligenz fördere“. Gerade um die Jahrhundertwende blühten reformpädagogische Ideen auf, auch, weil sich das soziale Gefüge der Gesellschaft veränderte, Stichwort Demokratiebestrebungen und Frauenbewegung.

In San Lorenzo jedenfalls arbeitete Montessori mit all den Methoden, die sich schon in ihrer Arbeit als Ärztin als sinnvoll und effizient erwiesen hatten. Die dort betreuten Kinder stammten aus sozial schwachen Familien und waren bisher großteils sich selbst überlassen gewesen, waren aber geistig und körperlich gesund. Als klassisches Leitmotiv der Montessori-Arbeit gilt, die natürliche Freude des Kindes am Lernen zu fördern. Überhaupt geht Montessori davon aus, dass Kinder in ihrem eigenen Rhythmus am Besten lernen. Zudem war sie davon überzeugt: Der Schlüssel zu kindlichem Denken sind nicht abstrakte Worte, sondern sinnliche Erfahrungen. Und das konnte sie in der „Casa dei bambini“ auch mit nicht beeinträchtigten Kindern erproben und weiterentwickeln.

In der Praxis heißt das: Montessori-Material hat viel mit An- und Begreifen zu tun, im wortwörtlichen Sinne. Zahlenbretter, Schwungübungstafeln, Schraubenbretter... Dinge, die heute in vielen Kindergärten zur Standardeinrichtung gehören, waren damals neu und ungewohnt. Auch die so genannte „Vorbereitete Umgebung“, wo flexibel auf die jeweilige Entwicklungsstufe der Kinder eingegangen wird, oder altersgemischte Kindergruppen (sie nannte den dortigen Austausch „geistige Osmose“) gehören zu Montessoris damals neuen Ideen.

„Einmaliges Ereignis“

Montessoris Methoden sprachen sich vor dem Ersten Weltkrieg schnell herum und die „Casa dei Bambini“ galt als Vorbild progressiver Pädagogik. Weltweit, anfangs vor allem in Nordamerika, wurden Kinderhäuser nach Montessoris Vorbild gegründet, auch in Deutschland und Österreich fanden die Ideen regen Anklang. Zeitgenossen sprechen gar von einer „blitzartigen Verbreitung der Methode“ und einem „einmaligen Ereignis in der Geschichte der Erziehung“. Doch die Zeitläufte schoben Montessoris Methode fürs Erste einen Riegel vor: Der Faschismus und das damit einhergehende Gedankengut wurde in der Zwischenkriegszeit langsam populär, um zu Beginn der Dreißiger Jahre einen rasanten Aufschwung zu erleben. Auch die Kindererziehung war naturgemäß davon betroffen. Die Nationalsozialisten zwangen die Montessori-Häuser in Deutschland, später in Österreich, ihren Betrieb einzustellen, galt doch der reformpädagogische Ansatz als „zutiefst undeutsch“: Eine Konzentration auf das Einzelwesen Kind mit all seinen Bedürfnissen als Gegenteil des „Führerprinzips“ wurde als egoistisch, jüdisch, marxistisch und damit höchst unwillkommen gebrandmarkt. 

Erst nach dem Krieg konnte Maria Montessori nach Europa zurückkehren, denn während des Zweiten Weltkrieges war sie von den Briten als feindliche Ausländerin in Indien interniert worden, wo sie sich mit ihrem Sohn aufhielt, als der Krieg ausbrach. Dort durfte sie sich zwar frei bewegen, das Land aber nicht verlassen. Die letzten Jahre ihres Lebens widmete sie sich weiterhin der Verbreitung ihres Lebenswerkes, Stillstand war ihr lange ein Fremdwort. Mit Erfolg, denn das, was schon geistige Wurzeln vor den beiden Weltkriegen geschlagen hatte, trug Früchte, die Montessori-Methode etablierte sich immer weiter.

Die Ausgangslage vieler althergebrachten Erziehungskonzepte und damit der Alltag vieler Kinder sah über weite Strecken so aus: „Das ist die Situation des Kindes, das in der Umwelt der Erwachsenen lebt: ein Störenfried, der etwas für sich sucht und nichts findet, der eintritt und sogleich fortgewiesen wird. (...) Es ist ein an den Rand der Gesellschaft verwiesenes Wesen, das jedermann ohne Respekt behandeln, beschimpfen und strafen darf, dank einem von der Natur verliehenen Recht: dem Recht des Erwachsenen.“ Mit Blick in die heutige Bildungslandschaft lässt sich sagen: Montessoris einst so progressive Ideen gehören heute ganz selbstverständlich zum gelebten Erziehungskanon in vielen Ländern, autoritärer Drill gehört glücklicherweise großteils der Vergangenheit an.

Montessoris Lebensleistung war es, Erwachsenen immer und immer wieder klarzumachen, dass Kinder in ihren Bedürfnissen, die oft so konträr zu ihren eigenen sind, ernstgenommen und gehört werden müssen, und wie wichtig das für die kindliche Entwicklung ist. 1952 starb die Italienerin in den Niederlanden, wo sie ihre letzten Jahre verbrachte, an einer Hirnblutung.

 

 

 

Maria Montessori 1913
Maria Montessori anno 1913. Zu dieser Zeit hatte sie sich bereits einen Namen als pädagogische Reformerin und Wissenschaftlerin gemacht.
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Kinder schlicht zu „verwalten“ und medikamentös zu betreuen, machte für sie als Ärztin keinen Sinn und brachte keine Verbesserung der Zustände für die Kinder. Und sie fand den Umgang mit behinderten Menschen schlicht entwürdigend.
Eine Konzentration auf das Einzelwesen Kind mit seinen Bedürfnissen als Gegenteil des „Führerprinzips“ wurde (im Nationalsozialismus, Anm.d. Red.) als egoistisch, jüdisch, marxistisch und damit höchst unwillkommen gebrandmarkt.