Prothesen für Verwundete für ein Leben nach dem Krieg

Im Prothesenzentrum von Olexander Stezenko im Kiewer Stadtteil Podil herrscht Hochbetrieb. Mitarbeiter laufen mit Gipsabdrücken und einzelnen Prothesenteilen durch die Werkstatt. Schleifmaschinen brummen, es riecht nach Harz und Gips. „Wir haben nicht gezählt, aber es ist wesentlich mehr Arbeit geworden“, erklärt Stezenko. Seit dem russischen Überfall vor etwas über einem Jahr herrscht Krieg in der Ukraine und die Nachfrage nach Prothesen für Amputierte ist immens gestiegen.

red/Agenturen

Um wie viel, vermag keiner zu sagen. Denn selbst die Zahl der Verwundeten wird in Kiew als Staatsgeheimnis behandelt. Im Betrieb wartet Anatolij Bassenko geduldig in einem Nebenraum auf einer Liege sitzend. „Er hat schon eine Prothese, aber die müssen wir neu machen, weil er zugenommen hat“, erklärt Stezenko und bringt ihm zur Probe einen angepassten neuen Prothesenschaft. Der 29-Jährige läuft im Flur ein paar Runden und zeigt sich zufrieden. Anatolij gehörte zu den ersten der Verteidiger des Stahlwerks Azovstal in Mariupol, die Ende Juni 2022 aus der Gefangenschaft freikamen.

Mit Kriegsausbruch meldete er sich als Veteran freiwillig und wurde nach Mariupol verlegt. Beim Rückzug ins Stahlwerk geriet seine Gruppe unter Beschuss. „Es schlug eine Mörsergranate ein und riss mir das Bein und einem Kameraden den Arm ab“, berichtet der ausgebildete Elektromonteur. Vier Soldaten blieben unverletzt und drei Soldaten wurden getötet.

Von da an lag Anatolij bis zur Aufgabe der Garnison im Feldlazarett in den Bunkern des Stahlwerks. Die Gefangenschaft verbrachte er in einem Krankenhaus in Donezk. „Was kann ich dazu sagen? Ich lebe, habe abgenommen“, sagt er lachend. Anatolij musste lernen den Amputationsstumpf abzubinden, damit dieser seine Form nicht verliert. Seine Übungsprothese habe er nach der Freilassung Anfang August erhalten. „Ich bekomme jetzt eine dauerhafte Prothese und bin in der Reha“, erzählt der Soldat.

Reha noch relativ neu

Die Reha besteht dabei aus einer Vorbereitungsphase, der Prothesenherstellung und -anpassung und dem anschließenden Prothesentraining. Laut dem Chef des Arbeitgeberverbandes der Orthopädiebranche, Ernest Skibinskyj, ist dieser Nachsorgeprozess noch relativ neu für die Ukraine. In der Sowjetunion wurde dem kaum Beachtung geschenkt. „Insgesamt arbeiten in unserer Branche etwa 100 Unternehmen, im Unternehmensverband sind 30 vereinigt“, sagt Skibinskyj. Diese beschäftigten über 2.000 Mitarbeiter.

Mit Kriegsbeginn hatte die Orthopädiebranche wie auch andere Sektoren der ukrainischen Wirtschaft vor allem Schwierigkeiten beim Import von Einzelteilen. „Zu Beginn des Krieges war das ein Problem, da vor allem die großen Logistikfirmen Angst hatten“, führt der 59-Jährige aus. Zurzeit stelle der Import von Materialien kein Problem dar.

Logistikprobleme machen den Herstellern zu schaffen

Unternehmer Stezenko schildert das etwas anders. „Bei einigen Teilen, besonders bei Armen, muss gerade sehr lang gewartet werden“, sagt der 62-Jährige. Mitunter betrage die Wartezeit bis zu einem halben Jahr. Da alles auf dem Landweg herantransportiert wird, braucht der Transport länger als vor dem Krieg. Hauptursache sind die Risiken. Die Hauptfrage sei: „Wer übernimmt die Verantwortung für die Fracht?“ Es gebe keine Versicherung, die die Risiken für Frachttransporte in die komplett als Kriegsgebiet geltende Ukraine übernehme.

Ob eine Prothese bereitgestellt werden kann, hängt dabei nicht nur von den vorhandenen Materialien oder qualifizierten Orthopädietechnikern ab. „Jeder Patient hat da seine eigene Geschichte“, erläutert Skibinskyj. Der körperliche Zustand des Amputierten sei sehr wichtig. Mitunter seien auch Nachamputationen nötig, da schnelle Notamputationen in Feldlazaretten ungeeignete Stümpfe hinterlassen.

Große Zahl an Patient:innen

Stezenko erzählt, dass die Arbeit sich für ihn und seine 14 Mitarbeiter bereits seit dem Beginn des Krieges in der Ostukraine 2014 stark geändert habe. „Junge Menschen wurden verletzt. Man will ihnen bestmöglich helfen“, erläutert er seinen Anspruch. Der Arbeitstag ist dabei geprägt von ständigen Anrufen und neuen Anfragen, was auch psychologisch belastend sei. Doch dafür hat der in Deutschland ausgebildete Meister für Orthopädietechnik Verständnis: „Die Jungs wollen so schnell wie möglich eine Prothese haben.“

Und auch unternehmerisch ist die Situation eine Herausforderung, auch wenn der ukrainische Staat und Wohltätigkeitsorganisationen die Prothesen bezahlen. Teils wisse er nicht, woher er das Geld nehmen soll, da zwischen dem Eintreffen der Einzelteile und dem Abschluss der Anpassung der Prothese mit der beglichenen Rechnung oft Monate vergehen. „Manchmal muss man Geld für die Anzahlung zurücklegen, da einige Firmen eine Vorkasse verlangen“, erläutert er.

Hilfe bei der Ausbildung gefordert

Für die Orthopädiebranche wünscht sich Skibinskyj vor allem Hilfe bei der Ausbildung von Orthopädietechnikern. „Wir haben gute, junge Leute, die bereit sind zu lernen und die Englisch können“, sagt er. Jedoch sei die über ein Jahr dauernde Ausbildung in Deutschland zu teuer. „Hilfe hierbei wäre wesentlich wichtiger als Finanzhilfen“, hebt er hervor. „Das Wichtigste ist die Ausbildung von Orthopädietechnikern!“

Nach seiner Zukunft gefragt, sagt Veteran Bassenko, dass er momentan nicht so sehr darüber nachdenke. Viel Zeit nehmen die Reha und das Abwickeln von Formalitäten wie der Austritt aus der Armee und die Beantragung der Invalidenrente in Anspruch. „Mein Bruder hat mir angeboten, in die USA zu ihm zu kommen“, sagt der Ostukrainer. Dort könne er selbst mit nur einem Bein Truckfahrer in Lkw mit Automatikschaltung werden. Dabei helfe ihm der Umstand, dass er sein linkes Bein verloren hat. „Mit dem rechten kann ich noch Gas geben“, erklärt er grinsend. Darüber entscheiden werde er aber später, zuerst muss er sich noch an das neue Leben mit der Beinprothese gewöhnen.