„Dr. Ruth“ ist Kult - und das seit Jahrzehnten, seit sie Anfang der 80er Jahre mit einer Radio-Show den Durchbruch schaffte. Mit ansteckendem Kichern gab „Dr. Ruth“ Sex-Tipps und jonglierte ohne Hemmungen mit Begriffen wie Ejakulation und Masturbation. Dem 15-minütigen Frage- und Antwort-Programm „Sexually Speaking“ bei einem New Yorker Lokalsender folgten Einladungen von Fernsehstationen aus aller Welt. Hunderttausende suchten im Schutz der Anonymität den Rat der Expertin. „Ihr Name und der ausgeprägte Klang ihrer Stimme sind untrennbar mit dem Thema Sex verbunden“, urteilte einmal „New York Times“.
„Die Fragen sind überall die gleichen“, sagte Westheimer einmal. Zwar brüste sich jedes Land, die besten Liebhaber zu haben. Sie aber könne keinen Weltbesten erkennen. „Quatsch“ sei auch das Bild vom angeblich so puritanischen Amerika im Vergleich zu einem sexuell sehr viel freieren Europa. Mehr als 30 Sex-Ratgeber hat Westheimer verfasst, viele davon sind auch auf Deutsch erschienen. „Ich wusste nicht, dass ich mal Dr. Ruth werden würde. Ich hatte Glück.“
Vom Untergrundkampf an die Sorbonne und in die USA
Geboren wurde Karola Ruth Siegel 1928 in Wiesenfeld in der Nähe von Frankfurt in eine jüdische Familie. Als Zehnjährige, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, gelangte sie mit einem Kindertransport in die Schweiz. So entkam sie dem Holocaust, ihre Eltern und die geliebte Großmutter aber sah sie nie wieder. Die Nationalsozialisten ermordeten Mutter und Vater im Konzentrationslager Auschwitz.
Nach dem Krieg, noch als Teenager, ging sie nach Palästina und kämpfte im Untergrund für ein freies Israel. Nachdem sie von einer Granate schwer verletzt worden war, begann sie ein Studium an der Sorbonne in Paris. Ein Scheck der deutschen Bundesregierung über 5.000 Mark zur Entschädigung für erlittenes Leid ermöglichte es ihr 1956, in die USA zu gehen. Dort setzte sie das Studium fort, heiratete Manfred Westheimer und bekam zwei Kinder. „Dr. Ruth“ ist nur 1,44 Meter groß - aber „wenn Größe in Mut, Entschlossenheit und harter Arbeit gemessen würde, müsste diese kleine Frau 2,50 Meter groß sein“, schrieb „Newsday“ einmal.
In ihre Heimatstadt Frankfurt ist „Dr. Ruth“ immer wieder anlässlich der Buchmesse zurückgekehrt. „Um den Bahnhof mache ich einen großen Bogen. Aber in meiner alten Wohnung in der Brahmsstraße 8, im Nordend, habe ich mich noch einmal umgeschaut“, erzählte sie einmal in einem Interview. „Es ist schwierig für mich, aber ich gehe stolz und mit geradem Rücken. Hitler hat nicht gewonnen! Er wollte, dass ich sterbe. Stattdessen habe ich jetzt Kinder und Enkelkinder.“
Wie sie mit 95 Jahren noch so fit und fröhlich ist? „Mein Geheimnis ist, dass ich mich jeden Tag frage: Was kann ich heute Abend machen? Und dann rufe ich jemanden an und wir unternehmen etwas.“ Sie habe kein Auto mehr, sondern fahre Taxi, und sie organisiere alle ihre Verabredungen per Telefon. „E-Mail benutze ich nicht, aber ich telefoniere den ganzen Tag.“