Wien und seine reiche Geschichte der Psychoanalyse und Psychologie. Gerade um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war hier ein äußert fruchtbarer Boden für neue und manchmal auch aufsehenerregende Ideen darüber, wie der menschliche Geist, die menschliche Seele, funktionieren könnte.
Einer, der „die Vermessung der menschlichen Psyche“ (so der Untertitel einer neuen Biografie des Wieners Alexander Kluy) besonders präzise ausführte, war der Arzt und Psychologe Alfred Adler. „Sein Ansatz, ganz simpel heruntergebrochen auf einen Satz, den wahrscheinlich auch ein zehnjähriges Kind verstehen würde, wäre wohl so: Wir fühlen uns alle immer wieder klein und schwach und das kann manchmal eine wichtige Triebfeder sein, um zu sagen, ich will aber viel lieber groß und stark werden. Sich klein und schwach zu fühlen ist nämlich sehr unangenehm“ so Nestor Kapusta, Facharzt für Psychiatrie, der seit Kurzem an der Spitze des geschichtsträchtigen, schon 1911 gegründeten Österreichischen Vereins für Individualpsychologie (ÖVIP) steht. Adlers Denkweise bietet einen aktiven Zugang, er will dem Menschen Werkzeug an die Hand geben, um sich aus negativen Umständen zu befreien. Damit begründete er die Zweite Wiener Schule der Psychotherapie, eine ganz andere Stoßrichtung als die damals gerade populär gewordenen psychoanalytische Schule Freuds.
Dem Tod ein Schnippchen schlagen
Dieses auf Autonomie und gleichzeitig Gemeinschaftssinn zielende Diktum Adlers kommt nicht von ungefähr, hatte er doch selbst eine prekäre Kindheit. Die Familie war groß und die Verhältnisse alles andere als optimal: Sechs Geschwister, eine kleine Wohnung auf der Äußeren Mariahilfer Straße und einen wenig erfolgreichen Vater, der als Getreidehändler wohl heute zur unteren Mittelschicht zählen würde. Fast jährlich zogen die Adlers damals zu Alfreds Volksschulzeit um. In einem Vortrag bezeichnete sich Adler, der Zweitgeborene, viel später als „selbstgenügsames und unanbhängiges Kind, freundlich zu jedermann“. Körperlich dagegen hatte er eine eher schwächliche Grundkonstitution: Krankheiten wie Rachitis und eine Stimmritzenverengung, die immer dann akut wurde, wenn ihn Angstanfälle überkamen, plagten ihn als Kind.
Auch ein frühes Trauma prägte Adler sehr, nämlich der plötzliche Tod seines kleinen Bruders Rudolf, den er eines Morgens tot neben sich liegend im miteinander geteilten Bett fand. So sehr, dass Adler später sogar meinte, das Medizinstudium sei sein persönlicher Weg gewesen, dem Tod sozusagen ein Schnippchen zu schlagen. Allerdings sprechen die nackten Zahlen etwas anderes, Stichwort Studierendenzahlen, wie Alexander Kluy in seinem Buch ausführt. Medizin war nicht nur ein Massenstudium geworden, sondern noch dazu die erste universitäre Sparte, die jüdische Männer zum Studium zuließ, und das mit Konsequenz: 93 Prozent der Studenten waren zu Adlers Zeit jüdischer Religion.
Besonders hervorgetan hat sich der eher gedrungene, kleine Adler an der Universität übrigens nicht, wie verschiedene Quellen verlauten lassen, dafür war er aber von Beginn seines Berufslebens mit Leib und Seele Arzt und schon früh an Arbeits- und Sozialmedizin interessiert. So schrieb er etwa 1898 eine Publikation namens „Das Gesundheitsbuch im Schneidergewerbe“, die sich mit den katastrophalen Umständen dieses Berufes auseinandersetzte.
Adlers sozialer Auftrag
Noch während seines Studiums lernte er eine Frau kennen, die seine politischen Ideen und Vorstellungen nicht nur unterstützte, sondern in ihrer Radikalität die Seinigen noch weit übertraf: Raissa Timofejewna Epstein. Die russische Staatsbürgerin kam nach einem Studienaufenthalt in Zürich (Biologie übrigens) nach Wien, wo Frauen aber erst ab 1897 und auch da erst teilweise studieren konnten. Ihr Leben lang blieb Raissa überzeugte Sozialistin und war in der Frauenbewegung aktiv. Die höchst politisch denkende Frau Adler zählte später sogar Trotzki höchstpersönlich zu ihrem Freundeskreis. Anfangs war die Liebesbeziehung zwischen Alfred und Raissa von überschwänglicher Verliebtheit zumindest seinerseits geprägt (Raissas Briefe sind nicht erhalten) und einem Freund gegenüber meinte er gar, „hätte ich sie in meinem Laboratorium anfertigen können, wäre sie keineswegs anders ausgefallen.“ Die Ehe – geheiratet wurde schließlich 1897 – war aber durchaus von Spannungen geprägt. Raissa fühlte sich oft zu sehr an Haushalt und die ingesamt vier Kinder (Valentina, Alexandra, Cornelia und Kurt) gebunden, während Adler selbst enorm viel arbeitete und auch oft im Ausland unterwegs war.
Wann das psychologische Moment bei dem bereits als Allgemeinmediziner etablierten Adler hinzugekommen ist, lässt sich ungefähr mit 1905,1906 datieren. Nestor Kapusta betont dabei, dass „Adler schon immer einen sozialen Auftrag hatte, er hat sich viel mit Patienten aus ärmeren Schichten beschäftigt. 1906 gab es dann ein erstes Konzept, in dem er skizzierte, dass es so etwas wie einen psychischen Überbau bei körperlichen Dingen gibt.“ Zu dieser Zeit war Adler schon Gründungsmitglied der so genannten, mythenumrankten Mittwochs-Gesellschaft, deren Kopf Sigmund Freud war und die 1902 gegründet wurde. Adler und Freud hatten sich da schon in regem, gegenseitig bewunderndem Austausch befunden.
Die anfangs informelle Gesprächsrunde wurde auf Einladung Freuds von den Ärzten Max Kahane, Rudolf Reitler, Wilhelm Stekel und eben Alfred Adler gegründet. Sie gilt heute als erster psychoanalytischer Arbeitskreis und wurde schließlich 1908 ganz offiziell in die Wiener Psychoanalytische Vereinigung umgewandelt: Man zählte zu diesem Zeitpunkt rund 30 Mitglieder. Was dort geschah, kann man sich wohl am besten als eine Art Ideeninkubator vorstellen und Freud galt dabei definitiv als Leitwolf der Gruppe. Alexander Kluy beschreibt die Gruppe „als eine Art Querschnitt durch die Schicht der Gebildeten. Es waren Mediziner darunter (..), Erzieher und Schriftsteller. Anfangs einte sie neben Neugier und dem Willen, sich die Freud´schen Theorien anzueignen und diese auszudifferenzieren, vor allem eines: die Unzufriedenheit mit den Zuständen in Psychiatrie, Pädagogik und benachbarten Feldern, die sich mit der menschlichen Psyche befassten.“ Die Gruppe war also recht bunt gemischt und trotzdem harmonisch, was allerdings nicht so bleiben sollte. Sich selbst als progressive Denkavantgarde begreifend, war es nur menschlich, dass jeder der Teilnehmer sich intellektuell beweisen und hervorheben wollte, gerade vor dem Übervater Freud.
Die Angst, „zu wenig“ zu sein
Dass Adler sich dann 1911 aus Freuds intellektueller Übermacht löste, war nur konsequent, denn „Freud und dessen psychoanalytische Theorien waren da schon sehr weit fortgeschritten und er selbst hatte viele Anhänger. Adler war aber jemand, der eigene, innovative Vorstellungen einbringen wollte, die allerdings als kritisch und unpassend erlebt wurden. Er hat nämlich die Grundtheorie von Freud in Frage gestellt haben, und zwar ob die Libido die alles treibende bestimmende Kraft ist“ skizziert Nestor Kapusta die Situation im Jahr der Trennung. Er begreift das Wort „Bruch“, mit dem diese Trennung später gerne beschrieben wurde, übrigens als eher unglücklich und bevorzugt den Begriff „Loslösung“.
Für Adler war das Ich sozusagen aktiv, ein handelnder Akteur, kein Opfer seiner Triebe, um es sehr verknappt auszudrücken. Das war ein völliger Gegensatz zu Freuds Ansichten und hat schließlich zu Adlers nächsten Denkschritten geführt. Dem Fundament dessen, was wir heute im deutschsprachigen Raum als Individualpsychologie kennen.
Deren Vorgeschichte: Adler hatte schon 1908 die Theorie vom Aggressionstrieb postuliert, ein Trieb, der ihm mindestens so wichtig wie die Libido erschien. 1911 änderte er den Begriff dann ab in „männlichen Protest“. Diesen Terminus muss man allerdings näher erklären und in den historischen Kontext einbetten. „Männlicher Protest“ heißt nämlich dabei, sich aus einer als weiblich, schwach, defizitär empfundenen Konstellation zu befreien, denn „weiblich“ war damals gleichbedeutend mit „schwach“, schwächer als alles Männliche jedenfalls. Diesen Protest assoziierte Adler dabei mit einer aktiven Haltung seiner Umwelt gegenüber und dem Aufstand gegenüber Autoritäten, Zwängen und Konventionen. Er sieht den Menschen aus einem Gefühl der Unterlegenheit heraus handelnd, dass dieser bekämpfen und loswerden möchte – mit einem Ziel: Sicherheit, Anerkennung und sozialen Status.
Kluy zieht in seinem Buch ein prägnantes Fazit, er schreibt „es geht dabei nicht um sexuelle Erfüllung. Es geht um Angst, zu wenig zu sein. Es geht um das Verhalten in einer Welt und um das Verhalten zur Welt. Es ist interaktiv, nicht wie bei Freud gehemmt bis abgekapselt regressiv.“ Während Freud sich verstärkt die Frage nach dem Grund der Handlungen stellte (Kausalität), ging Adler vielmehr dem Zweck selbiger nach (Finalität).
Adler beschäftigte sich anfänglich auch viel mit dem Thema „Organminderwertigkeit“, wie er es nannte. Damit meinte er hauptsächlich, dass Menschen körperliche Defizite psychisch zu kompensieren versuchen. „Wenn jemand zum Beispiel kein guter Läufer ist, wird er sich vielleicht umso mehr auf sein Redetalent konzentrieren, dieses hervorstreichen und sich so Anerkennung holen“, erklärt Kapusta den Begriff „wobei man bei Adler betonen muss, dass er die Idee der minderwertigen Organe nie als Defizit verstanden hat, sondern eher als Ansporn. Eugenik war ihm fremd und er hat sich später auch ganz von der dieser Thematik verabschiedet.“
Mehr als die Summe der einzelnen Teile
Um seine eigenen Ideen voranzutreiben, gründete Adler 1911 schließlich zusammen mit einem Kreis von Anhängern den Verein für freie psychoanalytische Forschung, der späteren „Gesellschaft für Individualpsychologie“. Adler selbst bezeichnete sein Buch „Der nervöse Charakter“ das 1913 erschien, übrigens als „Fundament der Individualpsychologie“, wobei wir hier gleich beim entscheidenden Stichwort sind.
Nestor Kapusta versucht eine Erklärung: „Der Begriff Individualpsychologie ist hier wortwörtlich zu nehmen, es kommt nämlich von der lateinischen Bedeutung der Unteilbarkeit. Für Adler sind die Sinne unteilbar und damit ist für ihn ein Gegenkonzept zur Vorstellung geschaffen, dass die Psyche in miteinander agierende Einzelteile aufteilbar ist. “ Für ihn hat der Mensch also als Ganzes Motive und Ziele, die ihm oft selbst nicht klar sind, also unbewusst in ihm schlummern. Gleichzeitig glaubt Adler aber, dass der Mensch sich selbst aus diesen Zuständen befreien kann und ein Wesen ist, dass Handlungen setzen möchte und kann, anstatt sich irrationalen Trieben zu unterwerfen.
Freud hat dazu den prägnanten Satz gesagt „Der Mensch ist nicht Herr im eigenen Haus“. Bei Adler könnte man sagen, der Mensch möchte sein Haus unbedingt selbst errichten. Was auch bestens zu dem von Alfred Adler geprägten Begriff des Minderwertigkeitskomplexes passt: »Die Zukunft ist mit unserem Streben und unserem Ziel verknüpft, während die Vergangenheit die Minderwertigkeit oder Unzulänglichkeit darstellt, die wir zu überwinden versuchen. (…) Das Streben nach Überlegenheit endet nie. Es stellt in der Tat den Geist, die Psyche des Individuums dar.«
Adler, das Rote Wien und die Pädagogik
Das Adler mit diesen Ansätzen eine wichtige Rolle in der Pädagogik einnahm, gerade im Roten Wien, wo man recht progressiv gegenüber Ideen zur Bildung und Erziehung eines „neuen“ Menschen eingestellt war, verwundert in diesem Kontext kaum. Adler war mit dem sozialdemokratischen Unterrichtsminister, Wiener Stadtrat und Schulreformer Otto Glöckel befreundet, der die wegweisende Wiener Schulreform 1920 umsetzte. Dabei waren Adlers individualpsychologische Ideen fundamental. Das zentrale Element dabei war ein empathisches Gemeinschaftsgefühl, das unter den Kindern entstehen sollte und darauf fußend der neue, demokratische Mensch. Gleichzeitig sollten die Lehrer auf die Eigenarten ihrer Schüler eingehen. Ein wichtiger Satz Adlers hierzu lautete: Ein Kind, das Schwierigkeiten macht, hat Schwierigkeiten. „Die Idee, einem Kind dabei Förderung statt Strafe und Züchtigung angedeihen zu lassen, stellt einen wichtigen Bruch in der bisherigen Pädagogik dar. Es geht darum, Kindern, die sich auffällig verhalten, zu helfen anstatt sie zu verurteilen “, so Kapusta.
Im schulischen Alltag sah das so aus, dass es in Wien Schulen mit speziell ausgebildetem Lehrpersonal gab, das mit den neuesten Erkenntnissen der Individualpsychologie vertraut war. Auch die bedeutende Entwicklungspsychologin Charlotte Bühler, die später von den Nationalsozialisten entrechtet und vertrieben wurde, war dabei eine wichtige Impulsgeberin. Schulverwaltungen wurden demokratisiert, der Lehrbetrieb modernisiert und die Lehrpläne überarbeitet. Unter anderem wurde schon 1919 eine bundesweite Säkularisierung des extrem katholisch geprägten Bildungswesens durch den Glöckel-Erlaß beschlossen: Die verpflichtende Teilnahme am Religionsunterricht und das tägliche Schulgebet wurde abgeschafft. (Engelbert Dollfuß machte diesen Erlaß dann 1933 wieder rückgängig). Außerdem wurde die Lehrerausbildung erneuert und Ansätze einer Schülerselbstverwaltung verwirklicht.
Ab 1919 gab es dafür eine eigene Erzieherschule im Schloss Schönbrunn (bekannt auch unter dem Namen „Kinderfreundeschule“ nach der sozialdemokratischen Bildungsorganisation), in der Adler selbst als Psychologievortragender wirkte. 1923 wurde außerdem das Pädagogische Institut der Stadt Wien gegründet, das explizit nicht an die Universität angebunden war. Auch dort arbeitete Adler für einige Jahre als Dozent. Schließlich eröffnete 1931 die erste individualpsychologisch orientierte Hauptschule ihre Pforten, der drei Größen der Individualpsychologie vorstanden, unter anderem Fritz Birnbaum, damals Präsident des Österreichischen Vereins für Individualpsychologie. In diesem Netzwerk aus neuen Bildungsmodellen spielten auch die so genannten „Erziehungsberatungsstellen“ eine wichtige Rolle als Ort, an dem Eltern nachfragen und sich Rat holen konnten. Als Träger dieser Einrichtungen fungierte der Stadtschulrat. Individualpsychologisch geschultes Personal, vom Arzt über Pädagogen bis hin zum Psychologen, war dort tätig. Ende der 20er Jahre gab es bereits 28 dieser Erziehungsberatungsstellen. Im Zuge der bekannt politischen Entwicklung in Richtung Austrofaschismus und NS-Diktatur wurde das Konzept aber schließlich auf Eis gelegt.
Ein abruptes Ende
Die Familie Adler hielt es währenddessen nicht mehr in Österreich, schon 1934 verlagerte sich der Lebensmittelpunkt von Raissa und Alfred immer mehr nach New York. Die älteste Tochter Valentina war währenddessen als überzeugte Kommunistin nach Moskau gegangen, allerdings geriet sie dort in die Fänge des so genannten „Großen Terrors“, der stalinistischen „Säuberungsaktionen“ dieser Zeit. Ihre Eltern waren verzweifelt auf der Suche nach der als vermisst geltenden Tochter, die schlußendlich allerdings in einem Gulag, wahrscheinlich 1942, starb.
Adlers Vortragsreisen führten ihn jedenfalls nach wie vor nach Europa, sein Bekanntheitsgrad war Mitte der dreißiger Jahre auf einem Höhepunkt angelangt. Im Frühjahr 1937 führte ihn seine Arbeit nach Großbritannien, der Ausgangspunkt der Vorträge war im schottischen Aberdeen. Dort, auf seinem üblichen morgendlichen Spaziergang, brach der 67-jährige Adler reglos zusammen, die sofort eintreffende Rettungsmannschaft konnte nichts mehr für ihn tun. Sein Tod wurde auf Herzversagen zurückgeführt. Die Urne (Adler wurde auf Wunsch der Familie eingeäschert) blieb jahrzehntelang in Edinburgh und wurde erst 2011 in Adlers Heimatstadt zurückgeholt und am Zentralfriedhof in einem Ehrengrab beigesetzt. Und was sagte Freud, der ehemalige Mentor, zu diesem plötzlichen Tod? Er merkte hämisch in einem Brief an den bestürzten Schriftsteller Arnold Zweig an, dass „für einen Judenbuben aus einem Wiener Vorort der Tod in Aberdeen, Schottland, eine unerhörte Karriere und ein Beweis ist, wie weit er es gebracht hat. Wirklich hat ihn die Mitwelt für das Verdienst, der Analyse widersprochen zu haben, reichlich belohnt.“
Alfred Adler hat Freuds Fürsprache da allerdings schon längst nicht mehr gebraucht, sein Nachruhm und Einfluss waren lebendiger denn je. „Gerade diese internationale Lehrtätigkeit, vor allem in den USA in seinen letzten Lebensjahren, hat Adlers Ideen stark verbreitet. Er ist in Amerika schlußendlich noch positiver als Freud aufgenommen worden, vielleicht auch, weil seine Haltung den American way of life recht gut ergänzt, und dort ist die Adlerian Psychology bis heute sehr bekannt“, so Nestor Kapusta. Adlers zeitlose, wegweisende Ideen werden das auch bleiben, wenn man denn unbedingt eine Prognose wagen möchte.
Kluy, Alexander: Alfred Adler. Die Vermessung der menschlichen Seele. DVA, 2019.
Der Autor stand medinlive per Mail Rede und Antwort:
medinlive: Warum ausgerechnet eine Biografie über Alfred Adler oder anders gefragt: Was fasziniert Sie an seiner Person besonders?
Alexander Kluy: Das ist einfach zu beantworten. Es hat seit einem Vierteljahrhundert keine Biografie Adlers mehr gegeben. In dieser Zeit haben Psychologie und Medizin, insonderheit die Neurowissenschaften, allerdings enorme Wissensfortschritte gemacht. Das hatte und hat natürlich Reperkussionen auch und erst recht für die Individualpsychologie gehabt, worüber in den letzten fünf bis zehn Jahren auch im Zusammenhang mit der bildgebenden Hightech-Medizin geforscht und geschrieben wurde.
Das Faszinierende an Adler ist die Überzeitlichkeit seiner Hypothesen und Arbeitstheorien. Sie leuchten ein, vielleicht heute mehr denn je, sie helfen Menschen. Er war in beneidenswerter und beneidenswert positiver, unverstellter Weise Menschen zugeneigt.
medinlive: Sie haben mit bisher unveröffentlichtem Archivmaterial gearbeitet. Wie gestaltete sich die Arbeit damit und was war neu daran?
Kluy: Ich habe Archive und Bibliotheken in Washington DC, in London und in Wien eingesehen, alle gut zu recherchieren. Dort fand ich im Adler´schen Nachlass etliche private und Familienbriefe, die nicht in die 2014 erschienene Briefedition aufgenommen worden waren, und Aufzeichnungen.
In London sichtete ich den Nachlass der Autorin (als solche heutzutage komplett vergessen, trotz einer schmalen Biografie jüngeren Datums) und Adler-Freundin Phyllis Bottome und zitiere aus Briefen, die noch nie zuvor in Druckform erschienen sind. Und in Wien fand ich späte Briefe Raissa Adlers, die belegten, dass sie bis zuletzt an ihrer sozialistischen Haltung unbeirrt – und das nach 20 Jahren im kapitalistischen New York – festhielt. Die Funde summierten sich im Lauf der Durchsicht. Überraschend war, dass Adler ein eifriger Briefschreiber war, auch ein besorgter pater familias, wenn er auch für die Binnenkonstellationen der eigenen Familienmitglieder kein immerwährend glückliches Mediatorenhändchen besaß (die eigene Ehe war schon bald eher trist). So erwies sich der Psychologe als „menschlich“ – auch mit dem empathischsten Klarblick sind emotionale Nahbeziehungen nicht immer glücklich.
medinlive: Bevor Sie Ihr Buch schrieben, war Alfred Adler für Sie eher als Arzt oder Psychologe verankert und wo verorten Sie ihn jetzt?
Kluy: Adler war mir bekannt als Teil der Trias „Freud Jung Adler“. Viele nickten und nicken bei der Nennung seines Namens. Doch gerade die detaillierte Auseinandersetzung mit seinen Lehren zeigte mir, dass diese Psychologie von vor 100 Jahren noch heute eine große, aktuelle und akute Strahl-, Leucht- und Heilkraft besitzen kann. Mehr, als die so weit verbreitete „Couch“-Psychoanalyse.
Wahrgenommen wird Adler heute leider fehlwissend immer noch oft als „Schüler Freuds“. Recht unbekannt sind die Leitthemen seiner Psychologie – kurioserweise sind das genau die Worte, die in den allgemeinen Alltagssprachgebrauch übergegangen sind: Kompensation und Überkompensation, Minderwertigkeitsgefühl, Gemeinschaftsgefühl und seine Erzeugung.