Interview

„Wir haben schon vor Corona am Limit gearbeitet"

Das gesamte mediznische Fachpersonal der Wiener Spitäler ist durch die Corona-Pandemie seit Monaten massiv belastet. Um sich ein umfassendes Bild zu verschaffen, wie angespannt die Situation ist, wurde eine Umfrage über die psychischen und physischen Belastungen aller Wiener angestellten Ärztinnen und Ärzte gestartet. Darüber und was sich im Wiener Gesundheitssystem ändern muss, sprach medinlive mit Gerald Gingold, dem neuen Vizepräsidenten und Obmann der Kurie angestellte Ärzte der Ärztekammer für Wien.

red

medinlive: Herr Vizepräsident, Ärztinnen und Ärzte stehen durch die Corona-Ausnahmesituation seit mittlerweile einem Jahr unter enormen Druck. Hat sich die an manchen Spitälern sowieso schon prekäre Personalsituation durch diese zusätzliche Herausforderung noch verschärft?

Gingold: Ja, leider. Wobei ich betonen möchte, diese zusätzliche Belastung betrifft selbstverständlich nicht nur Ärztinnen und Ärzte, sondern das gesamte Gesundheitspersonal in den Spitälern. Einzelne Bereiche, insbesonders Intensivstationen, sind besonders betroffen. Wir stehen hier in Wien tatsächlich an der Grenze des Machbaren. Es ist eine Sache, ein normales Spitalsbett in ein Intensivbett umzuwandeln. Wenn aber das dafür nötige entsprechende Personal fehlt – von den Intensivmedizinerinnen und -medizinern bis zum geschulten Pflegepersonal – nützt die beste technische Ausstattung nichts. Auf manchen Stationen werden derzeit acht Intensivpatientinnen und -patienten von nur mehr einer Intensivschwester betreut – zwar mit Unterstützung von Pflegekräften, die aber nicht dafür geschult sind. Im Normalbetrieb sollten es nicht mehr als zwei Betten sein. Das zeigt, dass hier schier Unmenschliches geleistet wird und die Kolleginnen und Kollegen täglich an ihre Grenzen stoßen.

medinlive: Bekommen Sie Rückmeldungen von Ärztinnen und Ärzten über die angespannte Situation in den Wiener Spitälern?

Gingold: Bei meiner Arbeit in der Klinik Favoriten erlebe ich die Anspannung, die übrigens auch die Patientinnen und Patienten betrifft, einerseits selbst und andererseits melden sich fast täglich Kolleginnen und Kollegen bei mir und berichten über die enormen Belastungen. Viele sind körperlich und psychisch erschöpft, fühlen sich ausgelaugt, krankheitsanfällig oder stehen kurz vor einem Burnout. Es gibt bereits auch Ärztinnen und Ärzte, die über einen Ausstieg aus dem Spitalsbetrieb nachdenken oder sogar überhaupt einen Jobwechsel ins Auge fassen. Um aber ein noch klareres Bild zu bekommen, haben wir eine Umfrage zu den physischen und vor allem auch psychischen Belastungen im Spitalsbetrieb unter allen Wiener Spitalsärztinnen und -ärzten gestartet. Mit den Ergebnissen dieser Befragung können wir dann unseren Forderungen an die politischen Entscheidungsträger noch mehr Gewicht verleihen. Eine weitere Schwierigkeit liegt in der eher unklaren Perspektive der Pandemie. Niemand kann sagen, wie lange das noch so gehen wird. Von den Langzeitfolgen in allen Bereichen rede ich jetzt noch gar nicht. Posttraumatische Belastungsstörungen, Longcovid et cetera. Da kommt noch extrem viel auf uns zu. Was wir alle erleben und erlebt haben, lässt sich irgendwann nicht mehr einfach so zur Seite schieben.

medinlive: Was muss sich im Spitalsbereich dringend ändern?

Gingold: Es sind ja leider seit Jahren dieselben Probleme, die wir aufzeigen: Personalknappheit, zu viele Überstunden, Zunahme von komplexen Krankheitsverläufen, massive Arbeitsverdichtung in allen Bereichen und dadurch bedingt eine unglaubliche psychische und physische Belastung. Unsere Ärztinnen und Ärzte arbeiteten schon vor der Corona-Krise am Limit. Als ersten Entlastungsschritt wurden uns nach intensiven Verhandlungen 250 zusätzliche Dienstposten für die Gemeindespitäler zugesagt, von denen bisher die Hälfte geschaffen wurde. Der Rest der neuen Dienstposten soll in diesem Jahr folgen. Jetzt mit Corona bräuchten wir dringendst und so rasch wie möglich zumindest die noch ausstehenden Kolleginnen und Kollegen, damit wir halbwegs gut durch die Pandemie kommen, die aktuell tätigen Ärztinnen und Ärzte wirklich entlasten und somit unser Gesundheitssystem vor dem Kollaps bewahren können.

Ich werde in meiner Funktion als Vizepräsident der Wiener Ärztekammer daher das Gespräch mit den entsprechenden Entscheidungsträgern suchen und so lange keine Ruhe geben, bis da Bewegung ins Spiel kommt. Die entsprechenden Gesprächstermine mit dem Gesundheitsstadtrat und dem Wiener Gesundheitsverbund sind bereits fixiert. Das Worst-Case-Szenario wäre, dass Ärztinnen und Ärzte noch während der Pandemie, die uns sicher noch einige Zeit begleiten wird, den Job hinschmeißen, weil sie nicht mehr können. Das dürfen wir nicht zulassen. Ich setze da auch ein wenig Hoffnung in den neuen Gesundheitsminister, der ja aus unseren Reihen kommt und das Gesundheitssystem bestens und von innen kennt und daher weiß, wo die größten Probleme liegen und wie man sie beheben könnte. Bereits im Jahr 2020 haben wir mit unserer Kooperation der ‚Offensive Gesundheit‘ sowie Expertinnen und Experten aus dem Gesundheitsministerium die ‚Roadmap Gesundheit 2020‘ erarbeitet. Vorschläge für erste Sofortmaßnahmen liegen also schon auf dem Tisch. Das muss jetzt dringend weiterverfolgt werden.

Zur Person

Dr. Gerald Gingold ist Facharzt für Radioonkologie und Strahlentherapie in der Klinik Favoriten und seit 12. März 2021 Vizepräsident der Ärztekammer für Wien sowie Obmann der Kurie angestellte Ärzte.


Online-Umfrage unter allen Wiener Spitalsärztinnen und -ärzten
In Kooperation mit dem Markt- und Meinungsforschungsinstitut Pitters Trendexperts wurde am 14. April 2021 eine Online-Umfrage unter allen angestellten Ärztinnen und Ärzte in Wien zur physischen und psychischen Belastung im Arbeitsalltag gestartet. Angestellte Ärztinnen und Ärzte haben eine entsprechende E-Mail mit dem Link zur Teilnahme an der Umfrage zugeschickt bekommen. Die Umfrage läuft bis 23. April 2021. Die Teilnahme an der Befragung ist freiwillig. Alle Angaben werden streng vertraulich und mit größter Sorgfalt behandelt. Die Ärztekammer erhält am Ende der Befragung aggregierte Ergebnisse, die keinerlei Rückschlüsse auf persönliche Angaben ermöglichen.

 

Gerald Gingold
Gerald Gingold ist Radioonkologe, Vizepräsident der Ärztekammer für Wien sowie Obmann der Kurie angestellte Ärzte.
Stefan Seelig
„Viele sind körperlich und psychisch erschöpft, fühlen sich ausgelaugt, krankheitsanfällig oder stehen kurz vor einem Burnout. Es gibt bereits auch Ärztinnen und Ärzte (...), die einen Jobwechsel ins Auge fassen."