Interview Global Health
Interview Global Health

„Ganze Berufsbilder verändern sich im Spital"

Automatisierte Pflege, das Spital als Flaggschiff moderner Hochleistungsmedizin und die Bereiche, die das ermöglichen und eben nicht im Rampenlicht stehen: medinlive sprach mit der Global-Health-Expertin Janina Kehr im ersten Teil des Interviews unter anderem über die unterschiedlichen Zugänge zum Thema Gesundheit, Personalmangel und die Rolle der Spitäler als Vorreiter.

Eva Kaiserseder

medinlive: Sie sind Medizinanthropologin: Was konkret umfasst dieser Begriff, dieses Themengebiet?

Janina Kehr: Um das zu erklären, muss ich etwas ausholen und bei der Anthropologie beginnen. Die Wissenschaft vom Menschen ist breit definiert. Uns als sozialwissenschaftlich arbeitende Anthropolog:innen interessiert, was für Menschen an unterschiedlichen Orten der Welt bedeutend ist, in welchen sozialen und politischen Zusammenhängen sie leben und an welchen Weltbildern sie sich orientieren. Medizinanthropologie ist dabei eine Subdisziplin und beschäftigt sich mit der Rolle von Medizin und Gesundheit in unterschiedlichen Gesellschaften. Das kann die so genannte Biomedizin sein, genauso kann es aber auch Heilung durch Ayahuasca im Amazonas betreffen oder Medizinsysteme wie etwa die tibetische Medizin und deren globale Verbreitung. Im Zentrum steht aber immer der Versuch, Vorstellungen von Medizin, Krankheit, Gesundheit und Heilung an unterschiedlichen Orten der Welt zu verstehen und dabei zu erklären, inwiefern diese mit gesellschaftlichen Systemen, also Religion, Wissenschaft, Wirtschaft oder Politik zusammenhängen.  

medinlive: Biomedizin ist der Begriff, der gerne einmal mit Schulmedizin deckungsgleich verwendet wird, oder?

Kehr: Genau. Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die wissenschaftliche Medizin in eine Richtung, in der mehr und mehr biologische Grundlagen und Prozesse im Zentrum der Behandlung und Erforschung von Krankheit standen, Stichwort Labormedizin. Es gibt auch andere Erklärungen für die Gründe von Krankheiten, aber die wissenschaftliche Verknüpfung der Medizin mit biologischen Prozessen – daher Biomedizin – ist bei uns hegemonial geworden.

medinlive: Stichwort Gesundheitssysteme: In Österreich haben wir bekanntlich den niedergelassenen Bereich und die Spitäler, also extra- und intramural. Wie sieht das international aus?

Kehr: Gesundheitswesen, so wie wir sie kennen, sind etwas relativ Junges und historisch Gewachsenes. Sie sind unter anderem das Produkt sozialer und politischer Forderungen an den Staat und Arbeitgeber:innen, sich um Krankheitsbehandlung und Gesunderhaltung der Bürger:innen zu kümmern. Öffentliche Gesundheitswesen sind also soziale Projekte, die eng mit dem Auf- und Ausbau des Wohlfahrtsstaates verknüpft sind. Beveridge und Bismarck als die zwei dominierenden Systeme sagen wahrscheinlich den meisten etwas. Kurzgefasst lässt sich sagen, dass Bismarck-Systeme, wie in Österreich, auf Versicherungsleistungen, etwa durch Sozialversicherungen, basieren und Beveridge-Systeme steuerfinanziert sind. Im deutschsprachigen Raum ist das Bismarck-Modell eher vorherrschend, wo eben nicht der Staat an sich für die Gesundheitsversorgung des Einzelnen aufkommt, sondern verschiedene Versicherungen.

Bei steuerfinanzierten Systemen wie etwa England und Spanien und seinen NHS (National Health Systems) sind prinzipiell sowohl Spitäler als auch die Primärversorgung in öffentlicher Hand, das System der niedergelassenen Ärzt:innen gibt es so nicht. Der Zugang zu Gesundheitsversorgung ist universell und für Benutzer:innen kostenfrei. Es gibt in solchen Systemen durchaus Out-of-Pocket Spendings, die von privat zu bezahlende Leistungen herrühren, welche heutzutage teilweise durch private Krankenversicherungen abgedeckt werden. Ansonsten gilt die wohlfahrtsstaatliche Verfassung, die besagt, dass die Verpflichtung auf Gesundheitsversorgung der Bevölkerung dem Staat obliegt. Beide Modelle sind historisch gewachsen. Sie haben einerseits mit politischen Umständen und den Forderungen diverser Berufsgruppen zu tun, andererseits aber auch mit gesellschaftlichen Vorstellungen von Solidarität, sozialer Sicherung und politischer Verantwortung.

medinlive: Die USA sind ja bekanntlich, was das Gesundheitswesen betrifft, noch einmal eine ganz eigene Liga. Dort wurde versucht, mit Obamacare zumindest in Ansätzen ein staatliches Gesundheitssystem zu etablieren. Ist das gelungen?

Kehr: Die USA gehören nicht zu meinen Forschungsschwerpunkten, aber ich würde sagen, es ist dort generell schwierig, an eine kollektive Versicherung zu denken, weil die USA das Individuum als Verantwortungsträger traditionell hochhält. Insofern ist es schwierig, öffentlichen Strukturen solidarischer Sicherung zu schaffen. Dies wird noch zusätzlich dadurch erschwert, dass der private Markt einen großen Einfluss hat. Ein ähnliches Problem sehe ich teilweise auch im deutschsprachigen Raum, wo es ja eine sehr ausgebaute öffentliche Gesundheitsversorgung gibt. Wenn die Wartezeiten für Spital- oder Facharztleistungen sehr lange werden, zum Beispiel durch den graduellen Abbau von Personal und Ressourcen, wechseln viele, die es sich leisten können, ins Privat- bzw. Wahlarztsystem. Dort gibt es schnelleren Zugang zu individueller Betreuung. Der private Bereich profitiert also vom Abbau des öffentlichen Systems.

medinlive: Stichwort Spitäler: Sie haben eine Publikationsserie mitveröffentlicht unter dem Namen „The hospital multiple“. Wie ist es um die Rolle und das Image von Spitälern und Gesundheitspersonal insgesamt bestellt? Und wie sind dann in weiterer Konsequenz Themen wie Prävention verankert in Österreich und international?

Kehr: Ich glaube man kann durchaus sagen, dass Spitäler überall auf der Welt Flagships moderner Biomedizin geworden sind. Dort passiert die „Hochleistungsmedizin“. Gleichzeitig sind Spitäler nur ein Teil des Gesundheitswesens. Auch wenn es mir schwierig erscheint, mit dem Idealbild des Krankenhauses als dem Ort von Hightech Gesundheitsversorgung zu brechen, ist es wichtig zu fragen, inwiefern Krankenhäuser auch vielschichtige, ambivalente und emotionale Orte sind. Was assoziieren Menschen mit Krankenhäusern? Welche  unterschiedlichen Beziehungen haben sie zu Krankenhäusern? Für Anthropolog:innen ist es sehr spannend zu verstehen, wie Krankenhäuser ganz generell wahrgenommen werden, aber auch, was Krankenhäuser eigentlich jenseits von Medizin sind. Denn Spitäler sind ja nicht nur medizinische Institutionen. Es passiert in Spitälern auch ganz viel anderes, sei es alltägliche Pflegearbeit, die Arbeit in Küchen oder Wäschereien, oder Abfallentsorgung, also eher infrastrukturelle Dinge. Die Covid-Krise hat zumindest Pflegearbeit und deren Krise sehr sichtbar gemacht. Krankenhäuser sind für mich also daher ein hochinteressanter Forschungsbereich, weil sie einerseits das Idealbild einer technologisierten Biomedizin darstellen, aber diese andererseits erst von nicht-medizinischen Bereichen ermöglicht wird, die nicht im Rampenlicht stehen und trotzdem so wichtig sind.

medinlive: Gibt es Länder, die Ihnen hier aufgefallen sind, weil sie etwa medizinisch besonders gut aufgestellt sind oder spezielle Modelle bei der Pflege haben?

Kehr: Da gibt es naturgemäß starke nationale Unterschiede. Es macht einen Riesenunterschied, ob man sich in der Schweiz befindet, wo die Pflege teilweise schon automatisiert ist und wo auch extrem viele Mittel da sind oder in einem Land, wo es generell kaum Budget für den Gesundheitsbereich gibt. Fakt ist, Krankenhäuser sind durch und durch ökonomisierte Räume, hier wird nichts dem Zufall überlassen. Das alles kostet Geld, produziert aber potentiell auch viel Profit.

medinlive: Sie haben eine automatisierte Pflege erwähnt, wie sieht so etwas in der Praxis aus?

Kehr: In der Schweiz habe ich im Rahmen einer Lehrveranstaltung mit Studierenden ein Krankenhaus besichtigt, wo uns gezeigt wurde, wie Logistik, Infrastruktur und Versorgungsgänge funktionieren. Es gibt hier Bestrebungen, Bereiche wie etwa die Medikamentendistribution – wie viele Medikamente braucht welche Station, wo sind diese gelagert und wie werden sie verteilt – zu automatisieren. Vermehrt werden hier nicht nur Pfleger:innen eingesetzt, sondern auch Menschen, die keine spezielle Ausbildung im medizinischen Bereich haben. Es ist spannend zu sehen, wie sich hier ganze Berufsbilder im Krankenhaus zu etwas verändern, das nicht zwingend medizinisch ist, wie dadurch auch Arbeit ausgelagert und günstiger werden kann.

 

Zur Person

Janina Kehr wurde 1978 in Mainz geboren. Die deutsche Medizinanthropologin und Global-Health-Expertin studierte in Göttingen sowie in Santa Cruz und absolvierte ihr Doktorat in Paris und Berlin. Anschließend verbrachte sie zehn Jahre in der Schweiz, an den Universitäten Zürich und Bern. Seit 2021 ist sie Professorin für Medizinanthropologie und Global Health an der Universität Wien. Die Professur wurde neu gegründet.

 

 

Janina Kehr
Janina Kehr ist Medizinanthropologin und Global-Health-Expertin. Seit 2021 ist sie Professorin für Medizinanthropologie und Global Health an der Universität Wien. Die Professur wurde neu gegründet.
Eva Meillan-Kehr
"Ich glaube man kann durchaus sagen, dass Spitäler überall auf der Welt Flagships moderner Biomedizin geworden sind."
 
© medinlive | 24.04.2024 | Link: https://www.medinlive.at/index.php/gesundheitspolitik/ganze-berufsbilder-veraendern-sich-im-spital