Schmerzpsychologie
Schmerzpsychologie

„Das große Thema ist die Schmerzakzeptanz!"

Akute Schmerzen kennt jeder von uns. Problematisch, auch für die Psyche, wird es oftmals dann, wenn sich Schmerzen chronifizieren und zum dauerhaften Begleiter werden. Multimodale Schmerztherapie ist längst State of the Art und zu diesem Behandlungskonzept gehört auch eine psychotherapeutische Begleitung. medinlive hat mit dem Schmerzpsychologen Wolfgang Dumat über Gratwanderungen in der Patient:innenbetreuung, unser faszinierend veränderliches Gehirn und den typischen Schmerzpatienten gesprochen.

Eva Kaiserseder

medinlive: Uns allen ist glaube ich bewusst wie eng Körper und Psyche miteinander verknüpft sind, oder ist das ein Trugschluss?

Wolfgang Dumat: Leider ist dieser Konnex nicht allen so klar. Es gibt unter Ärzt:innen viele, die das auch so sehen, aber es gibt auch genügend, die das getrennt betrachten. Orthopäden zum Beispiel sind da manches Mal eher in dieser Richtung unterwegs.

medinlive: Wie sieht denn die interdisziplinäre Zusammenarbeit aus? Gerade der Bereich Schmerz umfasst ja viele Komponenten.

Dumat: Ich finde, die Schmerztherapie ist interdisziplinär sehr gut aufgestellt, die Psychologen erfahren eine gute Anerkennung und sind zum Beispiel hinter den Anästhesisten die zweitgrößte Berufsgruppe in der deutschen Schmerzgesellschaft. Mit Neurologen hat sich die Zusammenarbeit zum Beispiel ebenfalls sehr gut entwickelt, gerade das Thema Kopfschmerz hatte die Neurologie ja lange für sich reklamiert. Dem ist nicht mehr unbedingt so.

medinlive: Was sind denn die häufigsten Beschwerden, die Ihnen in der Praxis begegnen?

Dumat: Es gibt natürlich die Volkskrankheit Rückenschmerz oder Schmerzen den Schulter- und Nackenbereich betreffend, auch primär muskulär bedingte Schmerzen durch Fehlhaltung und Inaktivität. Weiters gibt es vielfach Menschen mit Spannungskopfschmerz, der auch muskuläre Komponenten hat. Dann wird es differenzierter, rheumatische Schmerzen zum Beispiel sind in der Schmerzpsychologie nicht so im Zentrum, auch wenn sie weit verbreitet sind, denn da gibt es relativ gute Medikamente. Zudem haben solche Patient:innen eine Ursache bzw. eine klare Diagnose und Prognose, was bei Menschen mit unspezifischen Rückenschmerzen fehlt und zu einer psychischen Beeinträchtigung, also Angst und sozialem Rückzug, führen kann.

Rückenschmerzen
Männer haben bei Rückenschmerzen Vorteile: Frauen berichten mit einer Prävalenz von 66,0 Prozent in einer rezenten Umfrage des RKI signifikant häufiger davon als Männer mit 56,4 Prozent. (c) iStock_peterschreiber.media

 

medinlive: Wenn wir von chronischem Schmerz sprechen, ist das einerseits ein eigenes Krankheitsbild, andererseits sprechen wir auch von einem zeitlichen Rahmen. Wie kann man sich das vorstellen?

Dumat: Die Internationale Schmerzgesellschaft spricht von drei bis sechs Monaten, wenn der Schmerz also länger als diesen Zeitraum persistiert, spricht man von chronischem Schmerz. Allerdings ist das zeitlich schwer einschätzbar, sondern eher inhaltlich fassbar: Der Schmerz neigt nämlich durch unterschiedliche Faktoren zur Chronifizierung, etwa durch Ängste, ausgelöst durch Fragen wie „Warum helfen die Medikamente nur begrenzt, warum findet keine Ärztin, kein Arzt etwas?“ Dann kommen Jobängste dazu, die Familie wendet sich schon ein bisschen genervt ab... all das sind Dinge, die eine Chronifizierung befördern. Angst, Depression, sozialer Rückzug und Inaktivität sind also wesentlich dafür, dass sich bei manchen schon nach drei Monaten, bei anderen erst nach längerer Zeit, ein chronischer Schmerz entwickelt. Man sollte sich am zeitlichen Rahmen nicht so festmachen, vielmehr geht es darum, die oben genannten Faktoren frühzeitig zu identifizieren und mit den Patient:innen zu klären.

medinlive: Wie sieht das in der Praxis aus? Sie merken, da gleitet jemand rein in diesen Chronifizierungsprozess, was sind dann die ersten Schritte, die Sie setzen?

Dumat: In der Praxis ist das schwierig, denn die Patient:innen gehen bei Auftreten des Schmerzes als erstes zum Hausarzt, der sie dann, um beim Thema Rückenschmerz zu bleiben, weiter zum Orthopäden schickt und natürlich werden erst einmal Schmerzmittel gegeben. Inzwischen wird ein Hausarzt, der einigermaßen am Stand der Wissenschaft ist, raten, sich moderat zu bewegen, aber nicht zu überfordern, denn sonst verstärkt sich der Schmerz, was wiederum den Rückzug auf mehreren Ebenen fordert. Wirkt das einigermaßen, kann die akute Phase damit vorbeigehen. Bei großen Ängsten kann man den Orthopäden noch hinzuziehen, der eine gründliche Untersuchung vornimmt und auch auf muskuläre und stressbedingte Ursachen hinweisen kann. Manche Patient:innen können das gut annehmen und erzählen dann von Stress im Job und in der Beziehung, andere wiederum können nicht glauben, dass solche Schmerzen dort herkommen und sind felsenfest überzeugt, dass etwas in ihrem Körper sozusagen kaputt sein muss.

Wir Schmerzpsychologen haben allerdings das Modell: Wenn Ärzt:innen nichts finden, dann ist nicht etwas kaputt, sondern etwas funktioniert nicht richtig. Wir sehen den Funktionszusammenhang. Solche Patient:innen kommen allerdings häufig zu spät zu uns, sie haben dann schon alles durchprobiert, sind womöglich ein paar Mal operiert worden ohne Erfolg... natürlich sind diese Menschen an einem Tiefpunkt. Was dann wichtig ist: Eine gute, interdisziplinäre Behandlung mit Ärzt:innen, die ein psychosoziales Schmerzverständnis haben. Mit einem Physiotherapeuten, der sich mit Schmerzpatienten auskennt und genau weiß, was Menschen an so einem Punkt noch an Bewegung leisten können und was nicht. Mit Schmerzpsychologen, die diese Problematik gut kennen. In der Psychologie ist die Thematik schon eine sehr spezielle Nische.

medinlive: Ich stelle mir das als eine Gratwanderung vor, Menschen zu sagen, dass ihr Schmerz auch psychisch bedingt sein könnte, ihnen aber dabei nicht das Gefühl zu geben, sich das einzubilden.

Dumat: Absolut. In unseren Gruppentherapien sitzen oftmals 30- bis 60-Jährige, die schon einige Jahre Schmerzen haben und aus ihren Erfahrungen natürlich auch gelernt haben. Diese Menschen glauben schon lange nicht mehr, dass Ärzt:innen sie heilen werden. Das heißt, sie sind frustriert, aber auch offener für neue Ideen. Ein großes Thema für eine solche hochchronifizierte Schmerzgruppe ist die Schmerzakzeptanz. Es gibt keine Behandlung, die diesen Schmerz entfernen kann und das wissen die Patient:innen auch, sie wollen es nur nicht wahrhaben. Bedeutet Schmerzakzeptanz nun gleichzeitig aufzugeben? Viele sagen auch, nein, so kann ich nicht leben und so ein Leben halte ich nicht aus. Wir Schmerzpsychologen gehen aber davon aus, dass man einen anderen, besseren Umgang damit finden kann, auch wenn der Schmerz nicht mehr hundert Prozent verschwindet. Und dabei können wir helfen, nämlich, so gut es geht im Alltag klarzukommen und eine teilweise Schmerzlinderung zu erleben. Was die Patient:innen dann ja auch wieder stabiler und fitter für den Alltag macht, den sie besser bewältigen können.

Zudem ist es wichtig, eine klare Diagnose zu bekommen. Beim Rückenschmerz etwa geht es schleichend mit 30,40 Jahren los und die Erklärungen, dass das eben Verschleiß, Stress, Haltungsprobleme sind, ist für viele sehr unbefriedigend, weil sie eine solche Schmerzstärke, die sie erleben, nicht mit solchen alltäglichen Erklärungen in Verbindung bringen können.

medinlive: Ein Wort ist mir während der Recherche recht oft begegnet, nämlich Schmerzgedächtnis.

Dumat: Wir wissen seit den 1980er, 1990er-Jahren, seit der Erfindung des MRTs, dass das Hirn sich verändert. Und das Wort Schmerzgedächtnis ist ein Wort für Veränderungen in der Schmerzverarbeitung auf neuronaler Ebene. Diese Neuroplastizität zeigt sich zum Beispiel, wenn das Gehirn einer Geigerin untersucht wird, bei der im Bereich des Gehirns, das für die Fingerfertigkeit zuständig ist, mehr Nervenzellen aktiv sind als bei Nichtmusikern. Das Gleiche passiert bei einem Schmerzpatienten. Hier sind Areale im Gehirn mit Schmerzen beschäftigt und je länger der Schmerz anhält, desto ausgeprägter sind diese Areale aktiv. Dieses körperliche Zeichen für Schmerz ist für Patient:innen dann vielfach sehr erleichternd, wenn sie sehen, ihre Schmerzen sind nicht eingebildet, sondern im Gehirn verändert sich tatsächlich etwas. Diese hochkomplexe Materie kann man übrigens mit einfachen Worten und Schautafeln auch medizinischen Laien ganz gut erklären. Die Neuroplastizität gibt es natürlich auch bei anderen persistierenden Phänomenen. 

medinlive: Kann ich dieses Schmerzgedächtnis dann auch beeinflussen und wie?

Dumat: All die Interventionen, die wir machen, zum Beispiel Entspannungstraining, Physiotherapie, Angstreduktion oder Psychotherapie, sollen auf der jeweiligen Ebene wirken und dazu beitragen, dass sich das Schmerzgedächtnis langsam zurückbildet.

Diesen Prozess rückgängig zu machen ist aber nicht ganz einfach, meines Wissens gibt es dazu auch keine neuen Studien, wie lange das dauert und ob es überhaupt funktioniert, es ist aber momentan der einzige Weg, pragmatisch zu sagen: Wenn der Schmerz nicht weggeht, muss ich lernen, damit zu leben. 

medinlive: Die multimodale Schmerztherapie ist State oft the Art, welche Faktoren umfasst sie konkret und wie sieht die Rolle der Patient:innen aus?

Dumat: Ohne, dass Patient:innen aktiv in die Behandlung einsteigen, geht es nicht. Vor 50 Jahren wurde Rückenschmerzpatienten noch 14 Tage Bettruhe verordnet, dagegen ist die heutige Behandlung natürlich ein Riesenunterschied. Die Patient:innen müssen auch kognitiv in die Behandlung einsteigen, das bedeutet, ihre Einstellung gegenüber den Schmerzen zu ändern, was schwer zu akzeptieren ist. Dann müssen sie bereit sein für angemessene körperliche Aktivität, denn vielfach schonen oder überfordern sich Schmerzpatienten radikal. Gerade bei Problematiken im muskuloskelettalen Bereich gibt es viele sehr leistungsorientierte Menschen, die schlecht entspannen können und häufig kontrollierend agieren. Sie müssen lernen, eine gute Balance aus Entspannung und Aktivität zu finden. Wenn man jahrelang Schmerzen hat, ist eine tiefe, körperliche Entspannung natürlich schwierig, hier kommt dann oftmals auch die Behandlungsmethode Biofeedback ins Spiel. Zudem müssen sich Patient:innen auch mit Ärzt:innen auseinandersetzen, welche Schmerzmittel überhaupt noch sinnvoll sind, denn oftmals muss man hier wirklich einen Entzug bei langem Opiat- oder Morphingebrauch machen, weil diese schlicht nichts mehr bringen und die Patient:innen durch all die Nebenwirkungen nicht mehr gut im Alltag „funktionsfähig“ sind. Interessanterweise helfen bei chronischen Schmerzen Antidepressiva. Hier ist viel Aufklärung nötig, denn die Patient:innen sagen zu Recht, sie haben ja Schmerzen, keine Depressionen. Der Zusammenhang zwischen Schmerz und Depression ist jedenfalls relativ hoch und noch nicht bis ins Letzte geklärt.

medinlive: Was ist die Annahme, warum sie helfen?

Dumat: Sie wirken wohl auf das gleiche serotonerge System. Was ich aber sagen kann, ist, wie die Patient:innen das empfinden, sie sagen nämlich, seit sie Antidepressiva nehmen ist der Schmerz nicht mehr so im Vordergrund. Das hören wir oft. Viele Ärzt:innen sprechen dann von Schmerzdistanzierung.

Frau mit Depressionen
Antidepressiva helfen Patient:innen mit chronischen Schmerzen vielfach, die Zusammenhänge sind noch nicht völlig geklärt. (c)pixabay

 

medinlive: Was sind für Sie die größten Veränderungen der letzten Jahrzehnte in der Schmerzbehandlung?

Dumat: Als Psychologe kann ich sagen, dass die Miteinbeziehung und Anerkennung psychosozialer Faktoren wichtige Schritte waren. Psychische Faktoren wie Angst oder Depression sowie soziale Faktoren wie Belastungen am Arbeitsplatz oder in der Beziehung sind ebenfalls wichtig zu berücksichtigen. Interessant ist, dass der unspezifische Rückenschmerz, also ohne eindeutige Pathologie, sehr hoch mit der Arbeitsunzufriedenheit korreliert. Das heißt, wenn Sie unzufrieden, unter- oder überfordert sind am Arbeitsplatz, mit den Kollegen nicht klarkommen oder mit dem Vorgesetzten, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass Rückenschmerzen chronifizieren insgesamt höher. Was sich also geändert hat, ist das Schmerzmodell. Vom rein körperlich orientierten Ursachenmodell hin zu einem multifaktoriellen und psychosozialen Verständnis von Schmerz.

Auch Menschen, die plötzlich nach einem Unfall Schmerzen entwickeln, können übrigens in eine chronische Schmerzsymptomatik hineinrutschen, sie können depressiv und ängstlich werden, Probleme am Arbeitsplatz und in der Partnerschaft entwickeln. Hier sollte man differenzieren: Der Unfall war der Auslöser und nicht die Ursache.

Und Menschen, die vorher psychisch krank waren oder Menschen, die in ihrer Kindheit missbraucht oder vernachlässigt wurden, haben ebenfalls eine höhere Wahrscheinlichkeit, im Erwachsenenalter zu chronischen Schmerzpatienten zu werden. Dazu gibt es recht komplexe Modelle.

medinlive: Kommen wir zum Bereich der somatoformen Störungen, was genau zählt hier dazu und wie überschneidet sich das mit dem chronischen Schmerz?

Dumat: Das ändert sich gerade, auch mit dem neuen Diagnosesystem ICD-11, hier wird das anders definiert. Das Somatoforme kommt historisch aus diesem Denken, dass Patient:innen zu Ärzt:innen kommen und über Schmerzen klagen, diese aber keine körperliche Ursache finden. Das waren die Patient:innen, wo man früher gedacht hat, eindeutig psychisch bedingt, was sonst. Heute weiß man, hier spielen durchaus Faktoren eine Rolle, die die Patient:innen nicht bewusst als solche sehen. Somatoform wird also nun das genannt, wo es keine klare körperliche Ursache gibt und psychische Faktoren sehr wahrscheinlich eine wesentliche Rolle als Auslöser und in der Aufrechterhaltung der Problematik spielen.

Von der Dichotomie, der Trennung von Leib und Seele, kommt man aber immer mehr weg, das fing mit Descartes im 17. Jahrhundert an, diese Zweiteilung. Mittlerweile weiß man, das ist nicht haltbar. Dazu haben die Seele, wenn Sie diesen Begriff so verwenden wollen, und die Psyche viel zu viel Einfluss zum Beispiel auf Gehirn oder Nervensystem. Die Beeinflussung in beide Richtungen ist ganz offensichtlich.

medinlive: Gehören zu diesem somatoformen Kreis auch Dinge wie etwa Hypochondrie?

Dumat: Hypochondrie gehört zu den Angststörungen und ist gar nicht so schwer zu erklären, denn wenn Sie mit einem Betroffenen sprechen, merken Sie sehr schnell, hier steht die Angst im Vordergrund. Bei den somatoformen Störungen steht der Körper, die körperlichen Beschwerden, im Vordergrund. Es gibt Menschen, die ihnen eine Stunde lang erzählen können, was sie in welchen Teilen ihres Körpers empfinden und spüren. Da werden sehr viele Befindlichkeiten und Emotionen sozusagen „heraufgespült“, es geht um alles Mögliche, gar nicht einmal nur um die Schmerzen, aber diese Menschen sind sehr auf ihren Körper fixiert. Natürlich ist es wichtig, das ernstzunehmen, denn sonst steigen diese Patient:innen nicht in den therapeutischen Prozess ein und wenn sie das nicht tun, dann beginnt ein Kreislauf, Stichwort Ärztehopping.

Man sollte also tunlichst darauf achten, hier als Behandlungsteam mit einer durchdachten, gemeinsamen Philosophie heranzugehen und die Patient:innen nicht weiter zu verunsichern, indem man alle mögliche Optionen durchspielt, was denn diese oder jene Beschwerde noch sein könnte und welches Medikament man noch ausprobieren könnte, wenn man zudem weiß, die Wirkung ist absehbar. Man muss versuchen, immer wieder Ängste abzubauen, wenn sich Beschwerden aus welchen Gründen auch immer, verstärken, sei es durch körperliche Überlastung oder psychischen Stress. Also: Den Patient:innen zur Seite stehen, Ängste ernst nehmen, nicht kleinreden oder abtun, aber diese gleichzeitig auch erklären und bearbeiten, damit sie sich wieder reduzieren.

Wenn wir neue Patient:innen in unseren Gruppen haben, geht es denen übrigens auch erst einmal schlecht, denn sie sind plötzlich täglich in der Klinik, sind körperlich viel aktiver, werden mit Themen konfrontiert, die sie üblicherweise meiden... wenn diese Menschen aber dranbleiben, dann geht es ihnen ungefähr in der zweiten Woche besser, sie merken, wie aktiv sie eigentlich noch sein können, wie gut es tut, rauszukommen und andere zu treffen. Und das Spannende ist dann meistens, dass der Schmerz in diesen Gruppen bald kaum mehr Thema ist, irgendwann ist ja auch alles gesagt dazu. Und wenn das gut läuft, dann hält sich der Schmerz im Hintergrund auf und es werden völlig andere Themen bearbeitet. Da geht es um Beziehungssorgen, Alltagstrubel... und man kann ganz gut sehen, wo dann die Ursachen für eine Schmerzverstärkung liegen.

medinlive: Was sind denn klassische Gründe für Schmerzverstärkung?

Dumat: Unzufriedenheit am Arbeitsplatz steht generell ganz oben als Dauerbrenner. Oder Kopfschmerzpatienten, die sind zum Beispiel sehr leistungsorientiert. Grundsätzlich können Schmerzpatienten ganz schwer nein sagen und sind zur Konfliktvermeidung bereit, allerlei Aufgaben zu übernehmen. Sie sind nicht gut darin, aus Selbstschutz „Das wird mir zu viel“ oder schlicht „Ich habe keine Lust darauf!“ zu sagen. Im Verlauf ihrer Schmerzgeschichte erleben auch alle Patient:innen Schlafstörungen, was das System zusätzlich durcheinanderbringt. Und natürlich gibt es biographische, lebensgeschichtliche Punkte, die mit Schmerzen zusammenhängen. Nicht jeder Missbrauch oder Ähnliches mündet in einem chronischen Schmerz, natürlich nicht, aber es gibt Stationen im Leben, wo man die Entwicklung zum Schmerzpatienten ganz gut nachvollziehen kann. Wir sehen übrigens auch ganz viele Sportler, Leistungssportler, aber auch Freizeitsportler die nicht das richtige Trainingsmaß finden und Schmerzen zu oft immer wieder übergehen.

medinlive: Welche Methode fällt Ihnen noch ein, die in der Schmerztherapie gut funktioniert?

Dumat: Biofeedback kommt bei vielen Patient:innen gut an. Das ist ein computergestütztes Verfahren, wo mit Elektroden Messungen an der Körperoberfläche vorgenommen werden, also sehr unkompliziert. So lässt sich etwa die innere Anspannung messen, weil dadurch körperliche Prozesse wie etwa die Aktivität der Schweißdrüsen aktiviert werden. Die Schweißdrüsenaktivität kann man leicht mit kleinen Elektroden an zwei Fingern messen. Die betroffene Person kann das dann auf einem Bildschirm sehen kann und so in Echtzeit nachvollziehen, wie ent- oder angespannt sie ist. Für viele Patient:innen ist das wichtig, weil sie eine gestörte Körperwahrnehmung haben und hier ein objektives Maß finden, um mithilfe des Biofeedbacks und des Therapeuten körperliche Vorgänge zu beeinflussen, etwa durch verschiedene Entspannungstechniken. So lassen sich die Zusammenhänge zwischen muskulärer Anspannung, diese wird durch EMG Elektroden am Rücken oder Nacken abgeleitet und Schmerz mittels Biofeedback gut erkennen und diese unmittelbare Rückmeldung setzt einen Lernprozess in Gang. Eine klassische Konditionierung also.

medinlive: Was sieht ein Kopfschmerzpatient bei einem Biofeedback, wie kann man sich das vorstellen?

Dumat: Beim Spannungskopfschmerz (der häufigsten Kopfschmerzform)  funktioniert es im Prinzip ähnlich wie bei muskuloskelettalen Schmerzen: Die Elektroden werden am verspannten Kaumuskel, an den Stirnmuskeln und an der  Nackenmuskulatur (nicht beim Ohr) angebracht. Dann trainiert der Patient die Entspannung der Muskulatur mit Hilfe der Rückmeldung (Feedback) seines muskulären Spannungszustandes am Bildschirm. Bei der Migräne spielt das Vasokonstriktionstraining (Training der Gefäßverengung) neben dem Handerwärmungstraining eine wichtige Rolle. Beim Vasokonstriktionstraining gilt es, eine Veränderung der Arterienaktivität über die Messung an der Schläfe zu erzielen, wobei wir dann wieder beim Thema Selbstwirksamkeit wären, wo Biofeedback ja sehr stark ansetzt. Gerade für Menschen, die sehr stark leistungsorientiert denken, egal ob Männer oder Frauen, bietet so etwas eine Validität, die nicht in Frage gestellt werden kann und somit eine spezielle Wertigkeit hat. Hier ist die Technik Mittel zum Zweck.

medinlive: Ich bedanke mich für das Gespräch!

Zur Person

Wolfgang Dumat ist Psychologe MA (Studium an der Freien Universität Berlin), Psychologischer Psychotherapeut und Biofeedbacktherapeut. Darüber hinaus ist er Supervisor für psychologische Schmerz- und Biofeedbacktherapeuten und langjährig aktiv in der Ausbildung von Schmerz-, Biofeedbacktherapeuten und in der Schmerztherapie tätigen Ärzt:innen sowie Physiotherapeuten.
Er hat einige Jahre in deutschen orthopädischen und psychosomatischen Kliniken gearbeitet und war in den neunziger Jahren vier Jahre im Manchester & Salford Pain Centre tätig - damals eine der international führenden Institutionen in der Behandlung chronischer unspezifischer Rückenschmerzen. Von 2004 bis 2017 war er Leitender Psychologe im Zentrum für Schmerzmedizin des Schweizer Paraplegiker Zentrums in Nottwil/Luzern. Seit 2018 lebt er wieder in Berlin und hat hier über drei Jahre die Tagesklinik für Schmerzmedizin am Vivantes Klinikum Wenkebach aufgebaut. In seinem Ruhestand ist er zurzeit mit geringem Pensum in einer Privatpraxis tätig.

Infos und Fakten

Laut Zahlen des Robert Koch Instituts (RKI) in Deutschland sind Rücken- und Nackenschmerzen weit verbreitet. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: In einer telefonischen Querschnittbefragung unter Erwachsenen in Deutschland (N = 5.009) wurden neben der Häufigkeit und Intensität von Rücken- und Nackenschmerzen auch
Angaben zur Lebensqualität und zu Begleiterkrankungen erhoben. Es zeigt sich, dass 61,3 Prozent der Befragten in den letzten zwölf Monaten von Rückenschmerzen berichten. Schmerzen des unteren Rückens sind etwa doppelt so häufig wie Schmerzen des oberen Rückens. 15,5 Prozent der Befragten berichten von chronischen Rückenschmerzen. 45,7 Prozent gaben an, dass sie im vergangenen Jahr Nackenschmerzen hatten und 15,6 Prozent der Befragten berichten, im letzten Jahr sowohl Schmerzen im unteren und oberen Rücken als auch im Nacken gehabt zu haben. Frauen sind von allen Schmerzarten laut Umfrage häufiger betroffen als Männer. Etwa die Hälfte der Befragten schätzt ihre Rücken- und Nackenschmerzen als mäßig stark ein; ältere Befragte geben deutlich mehr Schmerzattacken je Monat an als jüngere Befragte.

In Österreich sind laut einem Ergebnis der österreichischen Gesundheitsbefragung aus 2014 rund 20 Prozent der hier lebenden Menschen von chronische Schmerzen betroffen.Die am häufigsten betroffenen Körperregionen sind Rücken und Gelenke (Arthroseschmerzen) sowie Kopfschmerzen.

Robert Koch Institut

 

 

 

 

 

 

 

Wolfgang Dumat
Wolfgang Dumat ist Schmerzpsychologe und lebt in Berlin.
privat
„Wir Schmerzpsychologen haben (...) das Modell: Wenn die Ärzt:innen nichts finden, dann ist nicht etwas kaputt, sondern etwas funktioniert nicht richtig. Wir sehen den Funktionszusammenhang."
„Hier sind Areale im Gehirn mit Schmerzen beschäftigt und je länger der Schmerz anhält, desto ausgeprägter sind diese Areale aktiv. Dieses körperliche Zeichen für Schmerz ist für Patient:innen dann vielfach sehr erleichternd, wenn sie sehen, ihre Schmerzen sind nicht eingebildet, sondern im Gehirn verändert sich tatsächlich etwas".
 
© medinlive | 16.04.2024 | Link: https://www.medinlive.at/index.php/wissenschaft/das-grosse-thema-ist-die-schmerzakzeptanz