„Kein quantitativer Ärztemangel"
Die zunehmenden Versorgungsprobleme in manchen Spitälern bzw. Engpässe bei Kassenordinationen bestimmter Fachrichtungen haben für die Rektoren der Medizin-Universitäten nichts mit einem Ärztemangel, sondern mit einem Verteilungsproblem zu tun. Ein Ausbau der Studienplätze sei als Gegenmaßnahme deshalb sinnlos, würde aber die Qualität von Ausbildung und Studium und auch die Österreicher-Quote beim Aufnahmeverfahren gefährden, warnten sie bei einem Hintergrundgespräch.
Vor allem aus den Ländern kommt regelmäßig der Ruf nach zusätzlichen Anfängerplätzen. Zuletzt hat sich auch Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) in seiner Rede „zur Zukunft der Nation“ für eine Aufstockung ausgesprochen, um die Versorgung mit Kassenärzten sicherzustellen. Für die Medizinuni-Rektoren wird damit allerdings vom tatsächlichen Problem abgelenkt.
„In Österreich gibt es kein quantitatives, sehr wohl aber ein qualitatives Problem“, betonte Markus Müller, Rektor der Medizin-Uni Wien am Donnerstagnachmittag vor Journalisten. Die Versorgungsdichte sei mit 5,5 Ärzt:innen pro 1.000 Einwohner die zweithöchste in der OECD. Die Versorgungsmängel würden durch Probleme bei der Verteilung entstehen, etwa zwischen Stadt und Land oder Mangel in bestimmten Fachrichtungen. Gleichzeitig leide das System darunter, dass es deutlich weniger Pflegepersonal gebe als etwa in Deutschland oder der Schweiz.
Dass in den 1960ern bei 11.000 Ärzt:innen noch vor einer Ärzteschwemme gewarnt wurden und man nun bei über 48.000 von einem Ärztemangel rede, nannte Medizin-Uni-Graz-Rektor Hellmut Samonigg „absurd“. Die Ärzt:innen seien offensichtlich nicht dort, wo man sie brauche. Die Forderung nach mehr Ausbildungsplätzen sei zur Lösung der aktuellen Probleme jedoch sinnlos, dauere es doch 13 Jahre, bis jemand zum Facharzt ausgebildet ist. „Das ist schlichtweg ein Ablenkungsmanöver.“ Ohne echte strukturelle Maßnahmen im System, die etwa die Abwanderung von Spitalsärzten in das Wahlarztsystem stoppen, drohe allerdings ein „Erdbeben“.
Pflege: Ohne Zuzug wird es nicht gehen
Als Gegenmaßnahmen plädierte Müller u.a. für mehr Administrativkräfte, damit Ärzt:innen etwa nicht mehr ihre Zeit damit verbringen, freie Betten für Patient:innen zu suchen. Bei den Pflegekräften brauche es ebenfalls mehr Personal, das werde ohne Zuzug nicht gehen. Auch auf der Angebotsseite könnte man einiges ändern, sagte er mit Verweis auf das „sehr spitalslastige“ System. Samonigg plädierte dafür, „ganz stark standes- oder lokalpolitische Dinge“ zurückzudrängen. Es sei nicht nachvollziehbar, wenn in manchen Häusern Personal fehle, während andere überhaupt nicht ausgelastet seien, nur weil es „an jeder Ecke“ ein Spital gebe.
Kein Teil der Lösung ist für die Medizin-Uni-Rektoren jedenfalls die Zahl der Studienanfänger. Österreich bilde schon jetzt deutlich mehr Jungärzte aus als die Nachbarländer, rechnete Müller vor. 1.850 Anfängerplätzen pro Jahr stünden in der ähnlich großen Schweiz 1.300 und im zehn Mal so großen Deutschland 12.000 gegenüber. Bis 2028 soll die Zahl an den öffentlichen Unis (Medizin-Unis Wien, Graz, Innsbruck, Medizin-Fakultät der Uni Linz) auf 2.000 Anfängerplätze steigen. Das ist für Müller „gerade noch qualitativ vertretbar“, reize allerdings die Leistungsfähigkeit der Unis massiv aus.
Ein weiterer Ausbau würde die Qualität der Ausbildung gefährden, die Absolventen - sollten die Rahmenbedingungen sich nicht ändern - aber ein „Exportschlager“ bleiben. Aus Befragungen wisse man, dass 15 Prozent der Absolventen mit österreichischem Maturazeugnis nach dem Abschluss das Land verlassen, bei Deutschen und Südtirolern 45 Prozent. Und zwar weil sie andernorts gleich eine Ausbildungsstelle finden und im Wunschland die Qualität der postgraduellen Ausbildung besser sei. Die Absolventen würden sich mit ihren Qualitätsansprüchen eben nicht wiederfinden, wenn sie in einer allgemeinmedizinischen Kassenpraxis 3,5 Minuten Zeit pro Patient hätten, kommentierte das Wolfgang Fleischhacker, Rektor der Medizin-Uni Innsbruck.
75 Prozent der Studienplätze für Bewerber mit österreichischem Maturazeugnis
Dazu komme, dass die EU bei einem weiteren Ausbau der Studienplätze die aktuelle Regelung, wonach 75 Prozent der Anfängerstudienplätze für Bewerber mit österreichischem Maturazeugnis reserviert sind, kippen könnte, warnte Fleischhacker. Immerhin sei diese mit dem Argument erlaubt worden, dass andernfalls ein Mangel in der ärztlichen Versorgung drohe.
Auch der jüngste Vorstoß von Sozialversicherungs-Chef Peter Lehner ist für die Rektoren keine Lösung, um mehr Ärzt:innen an versorgungswirksame Stellen zu bekommen. Dieser hat vorgeschlagen, dass Medizin-Studierende Studiengebühren bezahlen und erst refundiert bekommen, wenn sie im solidarischen Gesundheitssystem arbeiten. Es sei zwar nachvollziehbar, dass man aus einem öffentlich finanzierten Gratis-Studium eine Verpflichtung ableite. Hier gebe es aber Einschränkungen durch EU- und Verfassungsrecht, erklärte Meinhard Lukas, Rektor der Uni Linz. Wähle man Konstruktionen, die die Erwerbsfreiheit garantieren, sei hingegen die Wirksamkeit nur noch gering, so der Jurist. Dazu kommt laut Samonigg, dass überhaupt nicht alle Medizin-Absolventen nach dem Abschluss als Ärzt:innen arbeiten, sondern etwa auch in der Forschung.
Gegen eine neuerliche Diskussion über mehr Studienplätze hat sich am Freitag auch die Ärztekammer ausgesprochen. Man argumentiere seit Jahren, dass es wichtiger sei, die Rahmenbedingungen für die Ärzte zu verbessern, so Harald Mayer, Bundeskurienobmann der angestellten Ärzte, in einer Aussendung. Auffassungsunterschiede gibt es allerdings bei der Bewertung der Personalsituation: Ärzte würden heute - anders als in den späten 1980ern - nicht mehr 80 oder 100 Stunden pro Woche arbeiten wollen und können. Außerdem handle es sich bei den heute 47.700 berufsausübenden Ärzten um Köpfe und nicht Vollzeitäquivalente, da viele aus unterschiedlichen Gründen in Teilzeit arbeiten würden.