Österreichischer Dachverband für ärztliche Ganzheitsmedizin
Österreichischer Dachverband für ärztliche Ganzheitsmedizin

„Komplementärmedizin massiv unter Druck“

Anlässlich des 2. Österreichischen Tages der Ganzheitsmedizin warnen Komplementärmediziner vor einer Bedrohung der Zukunft komplementärmedizinischer Verfahren und deren Diskriminierung durch Player des Gesundheitssystems.

red

„Gegenwärtig ist die Komplementärmedizin in Österreich trotz ihrer hohen Akzeptanz in der Bevölkerung, der großen Zahl ärztlicher Anwender und ihrer nachweisbaren medizinischen Erfolge massiv unter Druck geraten. Ihre Zukunft ist bedroht“, sagt Univ.-Prof. Dr. Michael Frass, Präsident des Österreichischen Dachverbandes für ärztliche Ganzheitsmedizin, anlässlich des 2. Österreichischen Tages der Ganzheitsmedizin (10. Juli) in einer Aussendung. „Gegenüber der Öffentlichkeit wurde zuletzt intensiv durch abgestimmte Aktionen unterschiedlicher Player im Gesundheitssystem suggeriert, dass die Erfolge komplementärmedizinischer Interventionen ausschließlich Placebo-Effekte seien. Damit kann der falsche Eindruck einer Wirkungslosigkeit komplementärer Verfahren entstehen.“

Österreich droht international den Anschluss zu verlieren

Auch auf manchen Universitäten verstärke sich derzeit eine für die Komplementärmedizin problematische Stimmung. Ein Beispiel dafür ist, dass an der MedUni Wien seit Jahren bestehende Vorlesungen zu Disziplinen der Komplementärmedizin nicht mehr angeboten werden: „Das Fehlen qualifizierter Informationen für Studierende über Komplementärmedizin kann sich negativ auswirken“, warnt Prof. Frass. „Die Unkenntnis der Heil- und Gegenanzeigen komplementärer Behandlungen kann zum Beispiel zu unerwünschten Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Therapien führen.“

Österreich drohe hier international den Anschluss zu verlieren, so Prof. Frass. In Deutschland zum Beispiel wird gegenwärtig in der Universität Tübingen ein Lehrstuhl für Komplementärmedizin eingerichtet. In der Schweiz ist Komplementärmedizin ein Teil der Pflichtausbildung im Medizinstudium, außerdem gibt es eine Reihe von komplementärmedizinischen Wahlpflichtfächern.

Anstelle einer „ungerechtfertigte Diskriminierung der Komplementärmedizin“ wünscht sich Prof. Frass im Sinne der bestmöglichen Behandlung von Patientinnen und Patienten „ein faires Miteinander zwischen Schul- und Komplementärmedizin im Sinne einer Ganzheitsmedizin“. Dies umso mehr, als derzeit bereits 15 unterschiedliche komplementärmedizinische Ärztekammer-Diplome angeboten werden, die insgesamt von vielen Tausenden Ärztinnen und Ärzten absolviert wurden. Prof. Frass: „Ein zentraler Punkt bei der Sicherung von Qualität und Kompetenz ist die Beschränkung der Anwendung ganzheitsmedizinischer Methoden auf Ärztinnen und Ärzte. Nur sie verfügen auch über eine profunde akademische und praktische Ausbildung auf der Basis der Schulmedizin und können sicherstellen, dass Krankheiten nicht übersehen oder nötige Therapien verschleppt werden.“

Zunehmende Übernahme komplementärer Verfahren in den Honorarkatalog der Krankenkassen

Bereits 70 bis 80 Prozent der österreichischen Bevölkerung, das zeigt eine Umfrage, bevorzugt eine Kombination aus Schul- und Komplementärmedizin. „Ein Ziel ist es, Komplementärmedizin allen Bevölkerungskreisen zugänglich zu machen. Das setzt die zunehmende Übernahme komplementärer Verfahren in den Honorarkatalog der Krankenkassen voraus –  auf einem Honorarniveau, das dem in der Komplementärmedizin üblichen hohen Zeit- und Zuwendungseinsatz entspricht.“

In der Schweiz z. B. sind Krankenkassen per Gesetz verpflichtet, Behandlungskosten für Akupunktur, Anthroposophische Medizin, Homöopathie, Phytotherapie und Traditionelle Chinesische Medizin zu übernehmen – die Kostenübernahme geht jedoch bei vielen Versicherungen weit darüber hinaus.

Verstärkte Präsenz an den Universitäten – Immer bessere Präsenz durch Forschung

Angesichts der hohen Nachfrage und der vielfältigen Angebote komplementärmedizinischer Leistungen sei eine verstärkte Präsenz der Komplementärmedizin an den Universitäten besonders wichtig. Wissenschaftliche Studien zu komplementären Verfahren können in der Realität nur im universitären Setting durchgeführt werden. Prof. Frass: „Es bedarf einer ausreichenden Finanzierung und Unterstützung komplementärmedizinischer Studien im universitären Bereich.“

Die Ganzheitsmedizin habe wissenschaftlich nachvollziehbare Grundlagen, es gibt inzwischen eine Vielzahl von Studien über komplementärmedizinische Verfahren, sagt Prof. Frass: „Wir bemühen uns um eine immer bessere Evidenz durch Forschung, doch dafür brauchen wir geeignete Strukturen und eine Basis für die Forschungsfinanzierung, die leider völlig fehlt.“ In Deutschland zum Beispiel fließen Medienberichten zufolge nur 0,01 Prozent der insgesamt in der Medizin eingesetzten Forschungsgelder in Studien zur Komplementärmedizin.

Aktuelle Evidenz und neue Forschungsergebnisse

Den aktuellen Forschungsstand wird das demnächst im Springer Verlag erscheinende 1.100-Seiten-Werk „Integrative Medizin – Evidenzbasierte komplementärmedizinische Methoden“ (Hg.: Micheal Frass, Lothar Krenner)1) aufzeigen, in dem umfangreiche Studien-Referenzen angeführt sind.

Einige aktuelle Forschungsergebnisse:

Eine heuer publizierte Studie (doppelblind, randomisiert, Placebo-kontrolliert) aus Indien zum Thema Schlafstörungen mit 60 Teilnehmern zeigt, dass eine individualisierte homöopathische Behandlung signifikant bessere Ergebnisse gegen Schlafprobleme erzielt als eine Placebo-Behandlung.2)

Obwohl die Akupunktur seit mehr als 2.500 Jahren angewendet wird, um die Heilung verschiedener Krankheiten und Störungen zu unterstützen, sind die Grundlagen ihrer Funktionsweise, zum Beispiel des Meridiansystems, nicht eindeutig geklärt. Eine Studie aus Österreich gibt jetzt Hinweise darauf, dass Akupunkturpunkte doch nicht bei Gefäßnervenbündeln liegen. Die Autoren fanden Gefäßnervenbündel, von denen angenommen wurde, dass sie 80 Prozent der Akupunkturpunkte ausmachen, nur in wenigen Akupunkturpunkten. Dies widerspreche der Theorie, dass Akupunkturpunkte nur entlang der Nervenkanäle liegen. Die Studienautoren sind deshalb „nicht mehr davon überzeugt, dass einzig das Konzept der Funktion des Akupunktursystems über neuronale Reflexe gültig ist.“3)

Mehr Platz in der universitären Ausbildung

Der Komplementärmedizin müsse aber auch in der universitären Ausbildung mehr Platz eingeräumt werden, so der Präsident des Dachverbandes. „Es ist an der Zeit, dass an österreichischen Universitäten Professuren für Komplementärmedizin eingerichtet werden, wie es dem hohen Stellenwert dieser Methoden in der Gesundheitsversorgung schon lange entspricht und auch international üblich ist.“

Unter Komplementärmedizin wird ein breites Spektrum von Disziplinen und Behandlungsmethoden zusammengefasst, die auf anderen Modellen der Entstehung von Krankheiten und deren Behandlung basieren als jene der Schulmedizin. Die Palette umfasst völlig unterschiedliche Methoden von Akupunktur und Neuraltherapie über Homöopathie und Manualmedizin bis hin zu Ayurveda und Traditioneller Chinesischer Medizin (TCM). „Die Komplementärmedizin ist ein wichtiger Teil eines modernen diagnostischen und therapeutischen Angebots, sie ist wirksam und kostengünstig bei der Vorbeugung und Behandlung chronischer Erkrankungen“, sagt Prof. Frass. 

 
© medinlive | 23.04.2024 | Link: https://www.medinlive.at/index.php/gesundheitspolitik/komplementaermedizin-massiv-unter-druck