Interview Coronapandemie

„Die Realität spielt da nicht mit"

Sars-CoV-2 ist bekanntlich das seit Monaten alles beherrschende Thema. Uns ging es so wie vermutlich jedem anderen Medium auch: Wie soll man ein so komplexes Thema, zu dem quasi täglich neue Infos bekannt werden, in ein einziges stringentes Gespräch verpacken? Und ohne gefühlt tausendmal Gehörtes wiederzukäuen? Mit Marton Széll, Infektiologe und Internist, haben wir den Versuch gewagt. Teil eins des Gesprächs lesen Sie hier.

Eva Kaiserseder

medinlive: Sars-CoV2 bzw. Covid 19 beschäftigt uns nach wie vor alle in großem Umfang. Weltweit stand das Gesundheitspersonal bei der Pandemieeindämmung an vorderster Front. Sie sind Spitalsarzt und haben zudem eine Praxis. Wie haben Sie die Entwicklung von „Exotischem, aber marginalen Virus in China“ bis zu „Das kommt auch auf uns zu?“ erlebt?

Marton Széll: Ich bin durch Zufall wahrscheinlich viel früher mit dem Thema in Kontakt gekommen als andere, denn eine befreundete Infektiologin hat mich knapp vor dem Jahreswechsel gefragt, ob ich von diesen atypischen Pneumonien in China auch bei jungen Menschen gehört hätte. Das habe ich verneint, obwohl ich auf den Kanälen und Plattformen für Tropenmediziner immer mitlese. Diese Pneumonien waren mir damals aber neu. Ein paar Tage später habe ich aber ganz gezielt danach gesucht in einem Kanal, wo frühe Ausbrüche von Krankheiten gemeldet werden, als Information etwa für Tropenmediziner. Und da kam Wuhan als Ort vor, wo sieben bzw. am nächsten Tag 14 unklare atypische Pneumonien aufgetreten sind. Für uns Infektiologen war dann umgehend die Sars-1 Assoziation da, denn auch da gab es den China- und Großstadtkonnex mit Verbindung zu den dortigen Märkten.

In der Laienpresse wurde es dann Anfang Jänner zum Thema, wo sich herausgestellt hat, dass sich rund 40 bis 50 Menschen auf einem Markt in Wuhan angesteckt haben und eine Übertragung vom Tier auf den Menschen stattfand. Heute wissen wir, das war natürlich nur die Spitze des Eisbergs. Es war einfach auffällig, weil rund 15 Patienten in einem Krankenhaus mit sehr ähnlichen Symptomen waren. Ich erinnere mich, das erwähnt wurde, alle Patienten hätten eine Lymphopenie und das ist nach wie vor ein Leitsymptom. Dann hat es noch rund ein, zwei Wochen gedauert, bis man die Infektiosität und die Übertragbarkeit von Mensch zu Mensch festgestellt hat.

medinlive: Es gab ja dann diese Meldungen, wonach das Virus schon viel früher in Abwässern nachgewiesen wurde, auch außerhalb Chinas. 

Széll: Bereits Mitte Jänner wurden in Teilen Chinas Viren sequenziert und deren phylogenetischer Stammbaum erforscht, also untersucht, wo gewisse Linien zusammenkommen. Man hat dann entdeckt, dass das Virus schon zwischen Mitte November und Dezember auf den Menschen übergesprungen sein muss. Dazu passt derjenige Franzose, bei dem Mitte Dezember im Nachhinein Sars-CoV-2 nachgewiesen wurde. Er hat sich wahrscheinlich schon sehr früh bei einem Chinesen angesteckt, das ist im Bereich des Möglichen. Diese Barcelona-Funde, wo das Virus angeblich noch wesentlich früher in Abwässern entdeckt worden sein soll, das ist ein Pre-Print (wissenschaftliche Publikation vor dem Peer-Review-Prüfverfahren, Anm. d. Red.). Dort wurde überprüft, in welchen Proben das Virus im Nachhinein im Abwasser enthalten war. Natürlich gab es aus dem heurigen Frühjahr viele Nachweise, aber überraschenderweise auch vom März letzten Jahres. Das stand aber nur als Marginalie in dem Artikel und die Presse hat daraus gebastelt, dass Sars-CoV-2 schon im März 2019 in Spanien aufgetaucht ist. Was nie bestätigt wurde. Man müsste diese PCR-Probe noch einmal mit einer anderen Methodik überprüfen und wenn möglich sequenzieren.

medinlive: Das heißt, der chinesische Markt in Wuhan als erster Superspreaderevent ist fix? Oder gibt es daran seriöse Zweifel, also abseits von Trump und Co.?

Széll: Nein, das dürfte so korrekt sein, aber es gab relativ früh Patienten, die mit besagtem Markt nichts zu tun hatten. Das heißt, das Virus selber ist schon ein paar Wochen vorher auf den Menschen übergesprungen, dazu passt ja auch die Phylogenetik. Wie Sars-Cov-2 erstmals auf den Menschen übergesprungen ist, wird sich wahrscheinlich nie ganz auflösen lassen. Die aktuelle Theorie ist weiterhin, dass es von der Fledermaus stammt. Es hat nämlich zu 98 Prozent Deckungsgleichheit mit bekannten Fledermausviren, aber der Zwischenwirt ist nach wie unklar. Pangoline, diese Schuppentiere, stehen hoch im Kurs und was man derzeit versucht, ist, verschiedene Tierarten wie etwa Katzen oder Nerze zu challengen, also zu schauen, wie sie das Virus replizieren.

medinlive: Warum sind ausgerechnet Fledermäuse so ein gutes und bekanntes Reservoir für Viren?

Széll: Das ist eine sehr gute Frage. Es gibt tatsächlich viele Krankheiten, die eigentlich Fledermauskrankheiten sind, das beginnt bereits mit der Tollwut, denn die meisten Fledermausbestände weltweit haben sie. Auch Ebola oder MERS kommen aus dieser Ecke, wobei man MERS von Kamelen kennt, die allerdings nur ein Zwischenwirt sind. Ein Grund dafür: Fledermäuse leben in riesigen Populationen, in denen sich Viren oft sehr gut halten, sie werden relativ alt, bis zu 20 Jahre, und legen große Strecken zurück. Und gerade Coronaviren mögen Fledermäuse.

medinlive: Zurück zur Entwicklung der Pandemie: Ab wann war Ihnen klar, dass auch Österreich betroffen sein könnte?

Széll: Spätestens dann, als es in Italien, also in der Lombardei, die vielen Fälle gab, da war klar, dass das Thema auch in Österreich groß werden wird. Man hat auch gesehen, dass es dort in gewissen Populationen schon viel weiterverbreitet ist als angenommen. 

medinlive: Die Frage, die dazu auf der Hand liegt: Warum gab es in Italien so eine explosive Dynamik mit so hohen Todesraten?

Széll: Die Italiener hatten wirklich Pech. Erstens war das Virus schon viel länger da als man dachte. Das heißt, bevor man es entdeckt hat, hatte es schon wochenlang seine Kreise ziehen können, unbemerkt. Wir wissen ja, es sind viele Infizierte, rund 80-90 Prozent, asymptomatisch oder haben nur milde Symptome. Und es gab damals ja noch die Regel bzw. Falldefinition: Wer nicht aus China kam, der wurde nicht auf Sars-CoV-2 gescreent. In der Praxis hieß das, ein Italiener mit atypischer Pneunomie wurde erst gar nicht getestet, weil man noch nicht so weit gedacht hat und es auch zu der Zeit wenige Tests gab.

Die Italiener hatten also das Pech, nicht nur als erstes Land außerhalb Chinas betroffen zu sein, sondern sie waren auch nicht vorbereitet und hatten zu wenige Tests. Noch dazu haben sie die falsche Strategie gewählt, sie haben etwa die Erkrankten zurück in die Pflegeheime geschickt, wo es zu wenig Schutzausrüstung gab. Diese Faktoren führten dann gemeinsam zu den bekannt katastrophalen Zuständen. In Österreich haben wir viel gelernt von Italien, hier wurde sehr schnell kommuniziert, bei einem Verdacht 1450 anzurufen, bitte daheimzubleiben und explizit nicht ins Krankenhaus oder in die Praxen zu kommen. In Wien gab es außerdem den Ärztefunkdienst, der zu den Verdachtsfällen nach Hause gekommen ist und dort Abstriche gemacht hat, was eine sehr wichtige und gute Entscheidung war.

medinlive: Wie ist es Ihnen und Ihren Kollegen in dieser Anfangsphase gegangen? Sie haben ja als Arzt in der Niederlassung und als Spitalsarzt Einblick in beide Bereiche, wie war die Stimmung?

Széll: Ich selbst war bis Ende Februar in Indien und die letzten zwei Wochen habe ich eigentlich nur mehr im Internet verbracht. Da kam eine riesengroße Informationsflut auf uns zu, zudem gab es unter den Kollegen und Freunden viele Fragen und man hat sich intensiv ausgetauscht wie man das alles händeln soll. Mit Italien und den ersten massiven Fallzahlensteigerungen in Spanien war klar, wir in Österreich werden auch betroffen sein oder sind es vielleicht sogar schon.

Es wurde dann im Spital sofort begonnen, auf Anweisung des Gesundheitsministeriums und der Generaldirektion des KAV die nötigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Wie viele Intensivbetten hat man zur Verfügung, welche OPs lassen sich verschieben, damit diese Betten freibleiben können…Diese Fragestellungen zu lösen, das ist sehr rasch und gut gelungen, zumindest in meinem Krankenhaus (Wien, Klinik Donaustadt, Anm. d. Red.), wir waren dann bereit für den Tsunami. Der ist allerdings nie gekommen. Die Zahlen sind zwar gestiegen, aber das alles war machbar. Natürlich gab es Hektik, manche Kollegen hatten berechtigterweise Angst, es gab zu wenig Tests und Schutzmasken, aber die Situation war nie außer Kontrolle. Es gab auch viele Kollegen, die weitergearbeitet haben als wäre alles wie immer.

Im niedergelassenen Bereich, den ich ja auch mitbekommen haben, waren die Probleme oft psychologischer und organisatorischer Natur, es stellte sich etwa die Frage: Was macht man mit hustenden, fiebrigen Patienten, die trotz allem in die Ordination kommen? Wie schützt man sein Personal? Und woher bekommt man Schutzmasken in genügend großem Umfang? Es hat wochenlang gedauert bis man da halbwegs Ruhe hineinbringen konnte, allerdings war Ende März/Anfang April schon klar, dass der der Tsunami nicht kommen wird und es bei uns keine Situation wie etwa in Italien geben wird.

medinlive: Jetzt erleben wir in jüngster Zeit aber wieder die unterschiedlichsten Clusterbildungen, sei es rund um Freikirchen, Chorproben, Schlachtbetriebe oder zuletzt im Nachtleben, etwa  rund um Urlauberorte am Wolfgangsee. Warum sind solche Settings prädestiniert?

Széll: Diese Superspreadingevents bzw. die Clusterbildung waren fast vorhersehbar. Bei SARS-1 und MERS war ja schon bekannt, dass Coronaviren dazu neigen. Und hier, bei Sars-CoV-2, war das erste Superspreaderevent eben in Wuhan auf diesem Markt, wo es lange Zeit relativ wenige Infos darüber gab. Bei dem Thema Superspreaderevents und Sars-CoV-2 dachte man allerdings lange Zeit, das würde nicht so eine große Rolle spielen. Bis Mitte März gab es die Annahme, eine Übertragung würde eher in Familien passieren.

Wie wir wissen, spielen sie aber sehr wohl eine Rolle, es muss dabei aber auch einiges zusammenkommen: Ein Träger muss hoch infektiös sein, also eine hohe Viruslast haben, was, wie wir wissen, ja nicht besonders lange so bleibt, sondern nur ein paar Tage. Es geht beim derzeitigen Wissensstand auch um die Lautstärke und vielleicht auch um die Sprechtechnik, weil das zu einer erhöhten Aerosolbildung führt. Das heißt wenn man sehr laut spricht oder sprechen muss, würde das eine Übertragung begünstigen. Was noch dazukommen muss, ist das Environment, sprich wenig Luftaustausch und viele Menschen nahe beieinander, was zum Beispiel in einem Schlachthaus so ist. 

medinlive: Jetzt ein Themenschwenk: Immer wieder war ja vom R-Faktor die Rede, es gibt aber auch den so genannten Kappawert, den Dispersionsfaktor, der eigentlich ja genauso wesentlich ist. Was hat es damit auf sich?

Széll: Eine komplexe Sache. Diese Werte sind letztlich sehr theoretische Parameter, die in idealer Umgebung generiert werden. Und da wird dann berechnet. Das Problem: Die Realität spielt da nicht mit, denn die ist bekanntlich wesentlich komplexer. Diese zwei Parameter bilden also die Wirklichkeit mitnichten ab, aber die Werte an sich sind recht interessant.

In der deutschen Presse bilden sie hautsächlich den R-Wert, also den Reproduktionsfaktor, ab und fokussieren recht stark darauf. In Österreich ist das weniger im Fokus, da wird eher auf die Neuzuwächse geschaut und wenn die Neuinfektionen dreistellig sind, dann steigt die Nervosität. Wir schauen also eher auf absolute Zuwächse. Das finde ich ehrlich gesagt auch besser, denn der R-Wert sagt wenig aus über die Zunahme an Infektionen. Er sagt nur aus, ob es etwa eine Verdoppelung gibt, denn dann wäre der R-Wert 2. Konkret hieße das: Ob eine Person einen weiteren ansteckt und ob es dann schlussendlich 2 oder 200 Infektionen gibt, weil es einen oder 100 Infizierte gibt: Es wäre derselbe R-Wert. 

Noch ein Problem ist, in welcher Altersklasse die Infektionsepidemiologie stattfindet, ob ich also in ein Altersheim oder eine Schule schaue. Eine Volksschule mit einem hohen R-Wert ist eher unproblematisch, in einem Altersheim dagegen hochproblematisch. Darauf ist also auch zu achten. Deswegen ist es wahnsinnig schwierig, die Dynamik einer Pandemie mit nur einem der zwei Paramter abzubilden. Die Laienpresse nimmt diesen Wert natürlich gerne zur Veranschaulichung des Infektionsgeschehens her, aber er ist mit Vorsicht zu genießen, man muss daneben viele Parameter gleichzeitig überprüfen.

medinlive: Aber noch einmal weg vom R-Wert, hin zum Dispersionsfaktor K: Der Virus verteilt sich nicht gleichmäßig. Wie funktioniert das?

Széll: Wenn wir den Basisreproduktionswert R0 betrachten, liegt der laut Schätzungen zwischen 2 und 3. Aber selbst das ist schwer zu sagen, denn in Indien, wo es überall overcrowded ist, wird ein Infizierter vermutlich fünf oder sechs Leute anstecken, der Nomade in der Sahara deutlich weniger. Es ist also auch immer relevant, wo ich den R-Wert eruiere. Der Basisreproduktionswert ist bei Sars-CoV-2 übrigens gar nicht sehr hoch, bei Masern liegt er bei 18, diese sind wesentlich infektiöser.

Ein Infizierter muss aber nicht zwangsweise immer weitere infizieren und das ist dann besagter Kappawert, der bei Sars-CoV-2 eher niedrig ist. Drosten sagte einmal dazu, es fliegen Funken, aber es muss nicht zwangsläufig ein Feuer entstehen. Dafür gibt es auf der anderen Seite die bekannten Superspreadingevents. Was aber auch das Gute an diesem Virus ist, denn wenn ich diese verhindern bzw. prophylaktisch ausschalten kann, dann ist schon viel gewonnen und sehr viel Infektionsdynamik gebremst.

medinlive: Wir werfen an dieser Stelle Ischgl in dem Raum..

Széll: Ischgl ist ein gutes Beispiel, wobei man nach wie vor nicht weiß, was genau dort passiert ist. Was man weiß ist wie es abgelaufen ist. Dort gibt es viele Bars, es ist laut, es wird geschrien, gegröhlt, die Leute sitzen nah beinander... Aber aus meiner Sicht ist es zum Beispiel sehr interessant, dass die Touristen ja meistens nur eine Woche dort sind, von Samstag bis Samstag, und dass deswegen so eine Art Staffelübergabe von Samstag auf Sonntag stattgefunden haben muss.  Die Menschen müssen das von Woche zu Woche weitergetragen haben. In der Theorie könnten das Kellner gewesen sein, allerdings weiß man ja, dass man nicht besonders lange hochinfektiös ist und nicht wochenlang superspreaden kann. Es muss irgendwo eine Kette fortgesetzt worden sein, wo man noch nicht genau weiß, wie das passiert ist.

medinlive: Sind diejenigen Menschen mit Symptomen und einer höheren Viruslast auch automatisch infektiöser? 

Széll: Es dürften schon diejenigen, die Symptome haben, infektiöser sein, ja,vor allem wenn sie dabei auch husten. Allerdings nur die ersten zwei, drei Tage. Wenn jemand die Krankheit hat, muss man entscheiden zwischen präsymptomatisch und asymptomatisch.  Präsymptomatische Menschen sind wahrscheinlich infektiöser als die asymptomatischen, aber theoretisch können natürlich auch asymptomatische Menschen andere anstecken, wie wir wissen.

Anfangs dachte man ja, es reicht, wenn die Menschen zuhause bleiben, solange sie „krank“ sind, wie etwa bei der Grippe. Das Problem: Man weiß vorher logischerweise nicht, wer am nächsten Tag zu husten anfängt, daher vorher schon hochinfektiös ist. Das war die Erkenntnis, aus der die Ideen, Masken zu tragen, geboren wurde. 

medinlive: Die Neuinfektionen liegen ja seit geraumer Zeit wieder im dreistelligen Bereich, momentan liegen sie beinahe im vierstelligen Bereich. Gleichzeitig ist die Zahl der Intensivpatienten recht niedrig (Stand 12.9.: 42 Personen). Woran liegt das?

Széll: Dazu gibt es einige interessante Theorien. Die unwahrscheinlichste ist, dass das Virus mutiert ist. Es kann nicht sein, dass plötzlich weltweit eine neue Variante des Virus auftritt, ohne dass man das genetisch nachweisen kann.

Dann gibt es den Zeitfaktor. Es vergehen normalerweise zwei bis drei Wochen von der Neuinfektion bis zur Intensivstation, man muss daher noch ein bisschen abwarten, ob die Intensivbettenbelegung wirklich so niedrig bleiben wird. Ich wage aber die Prognose, dass hier nicht mehr allzu viel passieren wird. Denn mittlerweile sind wir sehr gut aufgestellt mit Testungen, mit denen wir auch mild Erkrankte sehr gut detektieren können. Das haben wir Anfang März noch nicht gekonnt. Im Klartext bedeutet das, es werden nun auch viele mild Erkrankte sichtbar, die nicht auf der Intensivstation landen. Außerdem ist der Schutz der älteren Generation verbessert worden. Die Dynamik liegt derzeit eher bei den Jüngeren.

medinlive: Stichwort Milde Verläufe: In letzter Zeit hat sich herauskristallisiert, dass die Folgen einer Coronainfektion nicht so mild wie anfangs gedacht sind, wobei da die Definitionsfrage auftaucht, was „mild“ überhaupt bedeuten soll.

Széll: Genau. Im Rahmen der akuten Erkrankung hat es sich bisher etabliert dass man unterschieden hat zwischen milden Verläufen, die nicht ins Krankenhaus mussten, und schweren Verläufen mit Krankenhaus und teilweise sogar Aufenthalten auf der Intensivstation. Interessant ist das, was jetzt ein bisschen in den Fokus rückt, nämlich die Langzeitschäden oder protrahierten Beschwerden. Wir haben aus China, also dem Ausgangspunkt, relativ wenige Infos von den anfänglichen Infektionen. Die Italiener haben allerdings Nachbeobachtungen gemacht, auch bei denjenigen, die gar nicht im Krankenhaus aufgenommen werden mussten. Außerdem gab es eine Frankfurter Studie rund um Herzuntersuchungen und Corona, aber da fehlt mir ein bisschen die Klinik und der Vergleichsmoment in Korrelation zur Klinik, das war eine Röntgenstudie.

medinlive: Was wären da die hauptsächlichen Folgen?

Széll: Ich sehe momentan unterschiedliche Folgen und Langzeitfolgen. Ich habe etwa einen jungen Mann gesehen, 25 Jahre, der gesichert Corona gehabt hat nach einem Tirolurlaub. Er hatte zwar einen Geschmacksverlust, war ansonsten aber großteils gesund. Bei ihm hat sich allerdings ein Hautausschlag manifestiert, der auch noch nach vielen Dermatologenbesuchen, Cortisonbehandlungen usw. nicht verschwindet. Es wäre zwar relativ neu in diesem Zusammenhang, aber bei dieser Krankheit ist alles möglich.

medinlive: Sars-CoV-2 gilt ja gemeinhin immer noch als Lungenkrankheit. Ist es tatsächlich so, dass auch bei den Spätfolgen die Lunge am ehesten beeinträchtigt ist?

Széll: Ich bin mir sicher, dass von den sogenannten milden Infektionen, also denjenigen, die nicht ins Krankenhaus aufgenommen worden sind, wahrscheinlich viele trotzdem eine Pneumonie hatten, die so mild verlaufen ist, dass kein Sauerstoff gebraucht wurde. Möglicherweise bleiben da Narben übrig.

Eine zweite Möglichkeit ist, dass Embolien häufiger auftreten, auch hier ist es möglich, dass Menschen unbemerkt Lungenembolien hatten und deswegen nicht so leistungsfähig sind. Da fehlen noch die großen Studien, das wird sicher kommen, wo Parameter wie Lungenfunktionstest usw. stärker in den Fokus gestellt werden. Zu den Studien allgemein konnte man feststellen, dass diese zum Schaden anderer Forschung geht, weil die Wissenschaftler natürlich abgezogen werden von anderen Themen. Allerdings glaube ich auch, dass diese intensive Coronaforschung durchaus anderen Infektionskrankheiten zu Gute kommen wird, zum Beispiel rund um das Thema Übertragungswege.

AGES

Sozialministerium

 

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„Die Italiener hatten also das Pech, nicht nur als erstes Land außerhalb Chinas betroffen zu sein, sondern sie waren auch nicht vorbereitet und hatten zu wenige Tests."
„Natürlich gab es Hektik, manche Kollegen hatten berechtigterweise Angst, es gab zu wenig Tests und Schutzmasken, aber die Situation war nie außer Kontrolle."