Telemedizin

„Eine Umorientierung im Berufsbild ist unausweichlich“

Andy Fischer hat mit der Medgate Tele Clinic eine der größten telemedizinischen Zentren Europas gegründet  –   und das bereits anno 2000. Im Medinlive Interview erläutert er seine Beweggründe dafür, warum Telemedizin für ihn die Zukunft ist und wie der Minicomputer in der Hosentasche, Stichwort Smartphone, die Arzt-Patienten-Beziehung entscheidend verändert hat.

Eva Kaiserseder
Telemedizin
Telemedizin gibt es in der Schweiz schon relativ lange, die Patienten waren anfangs aber extrem skeptisch. Heute gehört dieser Bereich zum medizinischen Standard.
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medinlive: In der Schweiz kennt man das Thema Telemedizin in einer rudimentären Form schon seit den 90er Jahren. Wie ist dieses Thema rechtlich und seitens der Krankenkassen geregelt?

Fischer: Es gibt hier zwei Aspekte: Einerseits geht es um die sanitätspolizeiliche Zulassung, wo geklärt wird, ob Sie überhaupt Telemedizin betreiben dürfen. Der zweite Aspekt ist, ob diese Leistung dann auch mit den Kassen abgerechnet werden darf. In der Schweiz stand der telemedizinische Betrieb von Anfang an nicht im Widerspruch zu den rechtlichen Rahmenbedingungen, wir haben zum Beispiel stark von den föderalistischen Gesundheitsgesetzen je nach Kanton profitiert.  Die Rechtsprechung in der Schweiz ist so ausgelegt, dass eine Leistung dort juristisch erbracht wird, wo sie angesiedelt ist, im Fall Medgate: Wo sich die Tele Clinic befindet. Wir haben zum Beispiel in Basel Stadt eine telemedizinische Bewilligung und dürfen unsere Leistungen von Basel aus für alle schweizerischen Kantone erbringen.

Die zweite sehr interessante Komponente lautet: Wie verrechnet man diese Leistungen? Wir kennen in der Schweiz einen Tarif für telefonische Leistungen schon seit Beginn der Tarifstrukturen (2004 erfolgte der Start des gesamtschweizerischen Tarmed-Systems, davor existierten aber bereits kantonale Berechnungssysteme, Anm. d. Red.), aber natürlich hat diese Arbeit der niedergelassenen Ärzte, etwa Follow Ups oder ein kurzer Austausch über die Medikamenteneinnahme, nichts mit Telemedizin zu tun. Dieser Tarif ist also deutlich zu niedrig gewesen für das, was professionelle Telemedizin anbietet. Seit unserem Bestehen haben wir daher individuelle Tarife mit den Krankenkassen vereinbart, damit konnten wir diese Leistungen fair abrechnen.

medinlive: Wie haben die Schweizer anfangs auf das Thema Telemedizin reagiert? War von Anfang an klar, das könnte funktionieren oder war die Skepsis vorherrschend?

Fischer: Betrachten wir einmal die unterschiedlichen Stakeholder. Beginnen wir mit den Patienten. Da war die initiale Akzeptanz sehr, sehr gering. Das hängt stark damit zusammen, dass medizinische Leistungen bei den meisten an das physische Vorhandensein eines Arztes gekoppelt sind. Selbst im aktiven Wortschatz ist das ja so verankert: Ich muss zum Arzt gehen, ich muss einen Doktor sehen... Die Situation war also immer dieselbe: Es gab eine große Hürde, diese telemedizinische Dienstleistung zu nutzen, sobald diese Hürde aber einmal genommen wurde, wurde die Leistung immer wieder in Anspruch genommen. In Zahlen: Wir hatten eine Wiedernutzungsrate von 95 Prozent. Ein praktisches Beispiel: Patienten konnten sich nicht vorstellen, dass man nach einer telemedizinischen Konsultation ein Rezept oder ein Arztzeugnis erhält. Das war damals neu und ist heute noch für viele ungewohnt.  Sobald die Patienten aber erlebt haben, dass das problemlos funktioniert, nutzten sie die Möglichkeit kontinuierlich.

medinlive: Wie sah die Akzeptanz der Ärzteschaft aus?

Fischer: Traditionell sind Ärzte sehr heterogen aufgestellt, also auch bei diesem Thema. Ich würde die Meinung der Ärzteschaft hierzu fast bipolar nennen (lacht). Es gab Ärzte, die waren sofort Feuer und Flamme und es gab andere, die konnten sich das nicht im Geringsten vorstellen. Zwischen diesen beiden Polen hat sich das anfangs bewegt.  Allerdings hatten und haben wir in der Schweiz das Glück, eine extrem innovative ärztliche Standesvertretung zu haben (Swiss Medical Association, FMH, Anm. d. Red.). Die Führungsspitze der FMH hat die Möglichkeiten der Telemedizin als sehr positiv gesehen und als eines der wenigen Mittel, um überhaupt zuverlässig eine Versorgungssicherheit zu schaffen. Hier wurden wir also enorm unterstützt, anders als in Ländern wie Deutschland oder auch Österreich, wo es bisher einen eher verhaltenen, schon fast konservativen Zugang zu dieser Thematik gab. Das wird sich aber hoffentlich bald ändern, zumindest in Deutschland, wo in der Gesetzgebung erste Anzeichen bereits erkennbar sind.

medinlive: Wobei wir gleich beim Thema Versorgungsdichte wären: Der Schweiz geht es hier ja ähnlich wie Österreich, punktuell gibt es vor allem im urbanen Bereich Standorte mit sehr hoher Versorgungsdichte, während manche ländliche Gegenden unter einem Ärztemangel besonders im niedergelassenen Bereich leiden. Wie ist Ihr subjektiver Eindruck, wo und wie könnte die Telemedizin auch in Österreich Fuß fassen?

Fischer: Der Bedarf ist jedenfalls enorm da, strukturell sind diese beiden Länder tatsächlich sehr ähnlich aufgestellt.  Es gibt eine extrem heterogene Versorgungslandschaft und die ist überaltert. Parallel dazu gibt es eine massiv steigende Erwartungshaltung, denn die Bewohner beider Länder sind tendenziell träge, wohlhabende Menschen in einem reichen Industriestaat, ausgestattet mit einem enormen Konsumhunger. Noch dazu gibt es eine starke Digitalisierung in allen Lebensbereichen. Dieses Setting muss man sich vor Augen halten, da prallen Welten aufeinander, wenn wir die Überalterung im Gesundheitssektor miteinbeziehen. Die Ausgangslage ist also in Österreich vollumfänglich da und ich glaube, ein telemedizinisches Angebot würde einerseits vom Gesundheitssystem, andererseits von den Patienten, massiv angenommen werden, wenn man das Thema richtig angeht und umsetzt. Natürlich sind solche Schritte von gesetzlichen Veränderungen abhängig und grundsätzlich im politischen Prozess nicht leicht zu erreichen, wenn konservative Kräfte dagegenwirken. Nimmt man etwa das Beispiel Deutschland, dann sieht man das ganz deutlich. Hier konnte eine kleine Minderheit der Ärzteschaft das Thema jahrelang blockieren und aufhalten, obschon die große Mehrheit bereits dafür war. Bekanntlich gibt es nun einen neuen Gesundheitsminister und das Thema wird in breiter Form ausgerollt. In Österreich sehe ich ähnliche Tendenzen.

medinlive: Sie sind selbst Arzt und haben Medgate vor nunmehr 18 Jahren gegründet. Woher kam diese Idee, was war die Triebfeder?

Fischer: Ich muss gestehen, ich kann da jetzt nicht von einem großartigen Masterplan berichten (lacht). Bevor ich Medgate gegründet habe, war ich Chirurg, primär in der Traumatologie, und war gleichzeitig bei der Flugrettung. Diese beiden Komponenten haben mir einerseits die Strukturprobleme des schweizerischen Gesundheitswesens aufgezeigt und andererseits die Kritikpunkte im Spitalswesen. Man musste die Augen zu dieser Zeit ja nicht wahnsinnig weit aufmachen, um zu bemerken, dass es da deutlich Luft nach oben gibt. Insbesondere die Tätigkeit im Flugrettungsdienst hat mir den Blick aus der Vogelperspektive erlaubt, und das wortwörtlich. Wir sind von Spital zu Spital geflogen und haben versucht, mit den Verletzten idealerweise am Schnellsten in das am besten geeignete Krankenhaus zu kommen. Da gab es durchaus Prozessmängel und man lernt enorm viel über das Thema Prozessintegration. Die zweite Optik war mein persönliches Erleben, dass nämlich die Sichtweise auf den Patienten hochgradig arrogant war und teilweise immer noch ist. Sobald man Patient ist, ist man unmündig und wird zum Unwissenden degradiert. Das zeichnet sich auch im Sprachgebrauch ab. Ein Patient ist Patient und kein Kunde mit Rechten und Pflichten. Wir haben diesen Zugang stark verinnerlicht. Ich glaube aber sehr stark daran, dass die Patienten Eigenverantwortung übernehmen können, das ist mein Ziel und dass ich hier und heute nun Digital Health mache, ist dabei eher Mittel zum Zweck. Ich sehe hier viel mehr Potential für den Patienten, sich einzubringen in das Gesundheitssystem als früher. Und ich glaube auch, dass es die einzige Möglichkeit ist, ein System zu etablieren, das funktioniert und bezahlbar ist. Das war und ist also die Grundidee. Wenn man ein integratives Versorgungsmodell will, braucht es Digitalisierung, und, um noch weiter zu gehen, aktuell auch Automatisierung. Im Klartext: Wir haben versucht, Probleme zu identifizieren und zu schauen, mit welchem Instrument sie sich lösen lassen. Im Gesundheitswesen sind das vielfach digitale Mittel. Daraus ist dann unser Unternehmen entstanden.

medinlive: Viele Patienten können sich nicht vorstellen, dass Telemedizin auch komplexe Probleme lösen kann. Wie gehen Sie damit um?

Fischer: Ich sage dazu, dass viele Dinge schon mittels einem Anamnesegespräch lösbar sind. Zusätzlich haben wir Bilder und Videokameras zur Verfügung, und gerade heute, wo de facto jeder Patient seinen Minicomputer in der Hosentasche hat und sehr viel dokumentieren kann, lässt sich der Bereich der Telemedizin weit fassen. Ärzte brauchen für die Diagnosestellung vorrangig einmal das Anschauen und das Zuhören und diese beiden Komponenten haben wir auch via Telemedizin. Ein Beispiel: Für die Beurteilung einer Hautveränderung reicht in der Regel ein Gespräch und eine Sichtbarmachung. Der Dermatologe macht in der Praxis nichts Anderes. Dann kann man das lösen. Für andere Problemstellungen gibt es natürlich invasive Lösungen oder Laborproben, die ich dazu brauche.

medinlive: Sie haben deswegen kürzlich die so genannten Mini Clinics etabliert. Was genau ist das?

Fischer: Sozusagen der verlängerte Arm der Telemediziner. Ich würde es als eine Art externen Diagnosehub bezeichnen. Dort lassen sich Schritte durchführen, die Sie via Bildschirm nicht machen können. Eine medizinische Hilfsperson macht dazu etwa eine bildgebende Untersuchung vor Ort, die ärztliche Kompetenz bleibt aber zentralisiert.

medinlive: Wir haben zuerst vom mündigen Patienten gesprochen. Ist es die Aufgabe des Arztes, Patienten mündiger zu machen?

Fischer: Das wird ganz von selbst geschehen, die Frage stellt sich also nicht, ob wir ihn dahin bringen müssen oder sollen. Der Patient wird das von selbst tun. Selbstdiagnostische Komponenten nehmen stetig zu und gerade die künstliche Intelligenz mit ihren technologischen Möglichkeiten wird das antreiben. Davon bin ich überzeugt. Wie rasch das passieren wird, weiß ich allerdings nicht, da bin ich aber tendenziell konservativ und glaube nicht an eine disruptive Entwicklung.

medinlive: Wie soll der Arzt grundsätzlich mit der Informationslust des Patienten umgehen, Stichwort Doktor Google?

Fischer: Dass die Ärzteschaft da not amused ist, ist klar. Ärzte verkaufen Wissen, das ist ihr Businessmodell, mehr als bei allen anderen Berufsgruppen. Und wenn es Instrumente gibt, Wissen zu bekommen, ohne zum Arzt zu gehen, dann werden die Anbieter dieses Wissens arbeitslos. Dass das Angst macht, ist logisch.

Medinlive: Was wäre rein hypothetisch der Königsweg, diese Entwicklung für beide Seiten zufriedenstellend zu gestalten? Vermeidbar ist sie kaum.

Fischer: Eine Umorientierung im Berufsbild erscheint mir unausweichlich. Das heißt konkret: Wenn ich dieses als Arzt so definiere, dass ich anderen Menschen helfen will, dann muss ich mich an die Gegebenheiten anpassen. Ein Beispiel: Der Kutscher hat das Berufsbild, Menschen von A nach B zu bringen. Bei der Erfindung der Lokomotive war die Zielsetzung dieselbe. Das Berufsbild Kutscher ist damit aber nicht mehr vereinbar, also muss der Kutscher das anbieten, was der Lokomotivführer anbietet und seinen Beruf umdenken.

In Bezug auf die ärztliche Profession heißt das: Doktor Google, Automation und andere digitale Anwendungen werden den Arzt nicht verdrängen. Sie eröffnen vielmehr neue Möglichkeiten, Sprechstunden und Behandlungen zu planen und durchzuführen sowie den mündigen Patienten partnerschaftlich auf seinem Therapieweg zu begleiten. Der moderne Arzt wird demnach dem Patienten auf Augenhöhe begegnen, ihm mit seinem Fachwissen helfen den idealen Behandlungspfad zu wählen und bezieht das Wissen der Patienten und deren Bedürfnisse in die Behandlung ein.

Diese Transformation ist aber für viele Ärzte nicht leicht umzusetzen, weil das nicht dem Selbstverständnis entspricht von dem was sie tun. Viele Ärzte sind Ärzte geworden weil sie ihren Beruf spannend finden, weil etwa bei den Chirurgen neue Operationsmethoden interessant sind oder weil sie schlicht gerne ein gewisses Machtgefühl genießen, das muss man ganz offen sagen. Wenn die Triebfeder aber die ist, dass ich Menschen heilen will, egal wie, dann setze ich damit einen Umdenkprozess in Gang.

medinlive: Eine philosophische Frage am Ende unseres Gesprächs: Was kann und darf Telemedizin und wohin wird sie uns bringen?

Fischer: Telemedizin ist immer dann genau richtig, wenn für die Lösung eines medizinischen Problems genügend Informationen und Daten vorhanden sind. Das entspricht grundsätzlich dem medizinischen Prozess: Sie sammeln Daten, verarbeiten Informationen und setzen dann Handlungen an.  Ob das ein Arzt oder ein Computer macht, ist eigentlich egal. Der Prozess funktioniert immer dann, wenn die Instrumente, die Sie einsetzen, sei es nun Videotelefonie, Chat oder Telefon, genügend Infos liefern können. Ich stelle das kurz praktisch dar: Viele Menschen glauben, Telemedizin ist nur für „einfache“ gesundheitliche Probleme einsetzbar. Das trifft aber nicht zu. Ein Melanom etwa, definitiv eine der tödlichsten Erkrankungen, die es gibt, lässt sich via Telemedizin leichter als Halsschmerzen diagnostizieren. Denn bei den Halsschmerzen weiß ich nicht, ob es Streptokokken sind oder etwas Anderes, das kann ich telemedizinisch nicht differenzieren.

Die zweite Komponente ist die Patientenperspektive: Durch Telemedizin bringe ich den Patienten auf ein anderes Niveau der Mitarbeit. Wenn er mir nicht genug Infos liefern kann, weil er kognitiv, sprachlich, formulierungstechnisch oder emotional nicht in der Lage ist, dann wird es schwierig. Das ist dann auch die Herausforderung in der Telemedizin: Immer wieder muss abgeschätzt werden, ob das Instrument, dass ich verwende, auch zuverlässig in der Lage ist, mir die benötigten Infos zu liefern. Ist das nämlich nicht der Fall, wird die Konsultation abgebrochen und es passiert eine Überweisung, wir sind diesbezüglich gut vernetzt mit unseren Partnern. Es geht also einerseits um die Informationsgewinnung durch den Patienten, aber auch um die Informationsvermittlung seitens des Arztes. Das ist etwas, das Mediziner lernen müssen und das auch oft unterschätzt wird. Man nimmt nicht nur einfach einen Telefonhörer in die Hand und los geht’s! Es ist eine ganz eigenständige Methodik, bei der sich die Grenzen immer weiter nach oben verschieben. Denn als wir mit Medgate angefangen haben, war unser Instrument tatsächlich nur das Telefon. Heute sieht das ganz anders aus. Wir haben Videos, Bilder, Bewegungsdaten, sogar ein Stimmerkennungsprogramm für respiratorische Probleme. Die Problemstellung bleibt aber immer die gleiche, egal mit welchen Instrumenten wir sie lösen müssen. Ein Mensch ist krank und der Arzt will ihn heilen.

medinlive: Ich bedanke mich sehr herzlich für das Gespräch!

 

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Andy Fischer
Andy Fischer war Chirurg und mit den Defiziten im Gesundheitswesen bestens vertraut. Ein Antrieb für ihn, sein eigenes Unternehmen zu gründen.
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