Interview

Autoimmunerkrankungen: „Die größte Herausforderung ist eine frühzeitige Diagnose"

Wenn der Körper quasi unter Eigenbeschuss gerät, wird von einer Autoimmunkrankheit gesprochen – bis zu 100 unterschiedliche gibt es derzeit geschätzt. Das Immunsystem, normalerweise ein höchst effizientes Bollwerk gegen Eindringlinge wie Viren oder Bakterien, kann nicht mehr zwischen fremden und körpereigenen Strukturen unterscheiden und attackiert sich selbst. medinlive hat mit der Dermatologin und Immunologin Marija Geroldinger-Simić über neue Therapieoptionen, steigende Zahlen und die schwierige Spurensuche bei Autoimmunkrankheiten gesprochen.

Eva Kaiserseder

medinlive: Autoimmunkrankheiten sind in stetigem Steigen begriffen. Können Sie eine ungefähre Zahl oder Einschätzung skizzieren, wie es in Österreich etwa um systemische und organspezifische Autoimmunerkrankungen bestellt ist? Was sind die Gründe für die steigenden Zahlen?

Marija Geroldinger-Simić: In der Tat besteht der Eindruck, dass Autoimmunkrankheiten zunehmen. Genaue Zahlen sind aber nicht bekannt. Weder gibt es flächendeckende Register, noch existiert ein vollständiger internationaler Katalog aller Autoimmunkrankheiten. Aktuell geht man von über 100 verschiedenen Autoimmunerkrankungen aus. Geschätzt liegt die Gesamtprävalenz bei bis zu 8 Prozent der Bevölkerung; somit sind in Österreich circa 700.000 Patientinnen und Patienten von Autoimmunerkrankungen betroffen.

Die Wahrnehmung eines Anstiegs ist vor allem auf die verbesserte Diagnostik und auf das größere Bewusstsein für Autoimmunerkrankungen bei Patientinnen und Patienten und Ärztinnen und Ärzten zurückzuführen. Zudem werden zunehmend Immuntherapien bei zahlreichen Erkrankungen (insbesondere bei Tumoren) verwendet, was manchmal Autoimmunkrankheiten als Nebenwirkung auslösen kann.

medinlive: Autoimmunerkrankungen sind, um einen Überbegriff zu verwenden, dann gegeben, wenn sich das Immunsystem gegen körpereigene Strukturen richtet und u.a. chronisch entzündliche Prozesse auslöst. Wie ist das aus zellulärer, immunologischer Sicht zu verstehen, Stichwort B- und T-Zellen-getriebene Erkrankungen?

Geroldinger-Simić: Autoimmunerkrankungen werden durch autoreaktive B- und T-Zellen vermittelt. Hyperreaktive B-Zellen sind besonders gut bei systemischem Lupus erythematodes (SLE), aber auch beim Sjögren Syndrom, bei rheumatoider Arthritis und bei systemischer Sklerodermie beschrieben. Die Überproduktion von B-Zell-Aktivierendem-Faktor (BAFF) sowie Interleukin (IL)-10, IL-6 und IFN-gamma durch autoreaktive B-Zellen wurden mit einer hohen Krankheitsaktivität bei SLE verbunden. Auch alle T-Zell-Subtypen sind bei Autoimmunerkrankungen involviert. Insbesondere Th17-Zellen haben sich bei zahlreichen Erkrankungen wie rheumatoider Arthritis, SLE, Sjögren Syndrom, Typ-1 Diabetes oder Psoriasis als sehr wichtig für Kontrollen von Gewebsschäden im Rahmen von Entzündungsprozessen gezeigt.

medinlive: Oft ist es ein langer Weg für die Patientinnen und Patienten, eine korrekte Diagnose zu finden. Interdisziplinarität ist in vielen Fällen gefragt. Wie legt das Autoimmunzentrum des Ordensklinikum Linz Elisabethinen, an dem Sie arbeiten, diesen interdisziplinären Zugang an? Und wie sieht das in der Praxis für die Patientinnen und Patienten aus, wie arbeiten die Ärztinnen und Ärzte zusammen?

Geroldinger-Simić: Die größte Herausforderung bei den Autoimmunerkrankungen ist eine frühzeitige Diagnose, um Organschäden durch entsprechende Therapie und engmaschige Kontrollen rechtzeitig bremsen zu können. Die Schwierigkeit besteht darin, dass viele Beschwerden schleichend beginnen, sich über lange Zeit fluktuierend verhalten, einzelne Organe, aber auch mehrere Organsysteme betroffen sein können und die Patientinnen und Patienten über die Jahre auch mehrere Autoimmunerkrankungen entwickeln können.

Patientinnen und Patienten, bei denen ein Verdacht auf eine Autoimmunerkrankung besteht, können einen Termin in unseren Spezialambulanzen (je nach Beschwerden Autoimmun-Hautambulanz, Rheuma-Ambulanz, Pneumologie-Ambulanz, Herz-Kreislauf-Ambulanz etc.) vereinbaren. Bei diesem ambulanten Termin wird ein ausführliches Gespräch mit den Patientinnen und Patienten über ihre Hauptbeschwerden geführt. Im Anschluss erfolgt eine gezielte klinische Untersuchung sowie, je nach Verdacht, eine Blutabnahme und erste Untersuchungen wie eine Kapillarmikroskopie, Ultraschall oder Röntgen. In einem weiteren Termin werden alle Befunde, mögliche Diagnosen und Therapieoptionen besprochen. Durch unseres Autoimmunzentrum sind die Wege zwischen die Spezialambulanzen kurz, die Patientinnen und Patienten bekommen Termine in anderen Ambulanzen zur weiteren Abklärung auch sehr kurzfristig. Wenn es sich um eine unklare Diagnose oder einen komplexen Fall mit mehreren Erkrankungen und langen Medikamentenlisten handelt, besteht für uns Ärztinnen und Ärzte die Möglichkeit, das Prozedere im Rahmen des Autoimmunboards, das alle zwei Wochen stattfindet, zu besprechen. Für diejenigen Patientinnen und Patienten, die durch ihre Beschwerden stark belastet sind, ist auch eine stationäre Aufnahme zur Durchuntersuchung möglich. Dabei werden Befunde und die Vorgehensweise interdisziplinär besprochen und festgelegt. Wichtige Aspekte im Rahmen der stationären Aufnahme sind außerdem die Unterstützung durch unsere klinischen Psychologen, die Ernährungsberatung und eine physikalisch-medizinische Therapie, um alle Faktoren der Autoimmunerkrankungen gut abzudecken.

medinlive: Welche Zugänge gibt es in der Therapie bei Autoimmunerkrankungen, welche innovativen Wege werden hier gerade beschritten? Und wie steht es um die Nebenwirkungen derartiger Therapieansätze? Gerade bei Autoimmunerkrankungen aus dem Rheumatologischen Formenkreis hat die Forschung ja rasante Fortschritte gemacht, Stichwort Biologika, monoklonale Antikörper, TNAF Blocker…

Geroldinger-Simić: Seit Jahrzehnten werden bei den Autoimmunerkrankungen Immunsuppressiva wie Kortikosteroide, Methotrexat, Azathioprin, Sandimmun oder Mycophenolat-Mofetil mit Erfolg eingesetzt. In den letzten Jahren wurden die Therapieoptionen dank intensiver Forschung deutlich erweitert. Biologika sind biotechnologisch produzierten Antikörper, die Teile unseres Immunsystems bremsen können. Sehr breite Anwendung finden anti-TNF-alpha-Antikörper, die mit viel Erfolg bei rheumatoider Arthritis, chronisch entzündlichen Darmerkrankungen, Psoriasis vulgaris, Arthritis oder Uveitis eingesetzt werden. Zudem haben sich in den letzten Jahren auch anti-IL-17 oder anti-(IL12-)/IL23-Antikörper sowie IL-17-Rezeptorblocker als Therapie bei Psoriasis vulgaris und Arthritis etabliert. Darüber hinaus gibt es Immunmodulatoren wie Phosphodiesterase- oder Januskinase-Hemmer, die bei rheumatoider Arthritis, Psoriasis und chronisch entzündlichen Darmerkrankungen angewendet werden.

Die meisten Medikamente sind sehr gut verträglich. Vor Therapiebeginn werden chronische Infektionen wie Tuberkulose oder Hepatitis ausgeschlossen. Außerdem wird die Auffrischung des Impfstatus empfohlen, weil Lebendimpfstoffe während der Therapie kontraindiziert sind. Als häufigste Nebenwirkungen können leichte respiratorische Infekte oder Herpes-Virus-Infektionen (bei JAK-Inhibitoren) entstehen. Durch regelmäßige Kontrollen an unserem Autoimmunzentrum werden das Therapieansprechen sowie Nebenwirkungen engmaschig überwacht, und bei Bedarf die Therapie pausiert oder umgestellt. Insbesondere bei Patientinnen und Patienten mit mehreren Erkrankungen und zahlreichen Medikamenten kommt uns unsere interdisziplinäre Arbeit zugute, um zeitnah die beste Therapieoptionen zu finden.

medinlive: Genetische Prädispositionen, exogene Trigger, Hormone ... welche Faktoren sind denn Ihrer Meinung essentiell bei der Entwicklung bzw. dem Ausbruch von Autoimmunerkrankungen?

Geroldinger-Simić: Aus heutiger Sicht ist es von einer Kombination der genetischen Neigung (vor allem HLA-DRB1 Polymorphismen) und Auswirkung von einzelnen von vielen möglichen Umweltfaktoren (Infektionen, UV-Strahlung, Adjuvantien, Silikon, Rauchen, Gifte, manche Medikamente, Hormone, mechanischer oder psychischer Stress) auszugehen. Im Rahmen der aktuellen Corona-Pandemie wird auch über „Long-COVID“, eine durch Sars-Cov2-Virus induzierte und durch Autoimmunität vermittelte Erkrankung, diskutiert.

medinlive: Der Pflege kommt bei Autoimmunerkrankungen eine große Rolle zu. Welche Kompetenzen der Pflegenden sind hier besonders wichtig und warum?

Geroldinger-Simić: Pflegepersonal hat eine wesentliche Rolle im Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung mit den Patientinnen und Patienten. Als wichtige Gesprächspartner im Spitals- oder Ordinationsalltag kann Pflegepersonal die Patientinnen und Patienten bei der Auseinandersetzung mit der Erkrankung oder mit Nebenwirkungen der Therapie unterstützen. An unserem Autoimmunzentrum sind im Bereich der Rheumatologie und Gastroenterologie speziell ausgebildete Pflegekräfte als „Autoimmun-Nurse“ tätig. Die „Autoimmun-Nurses“ sind von zentraler Bedeutung in der Betreuung von Patientinnen und Patienten mit Autoimmunerkrankungen. Sie führen die Einschulungen für die richtige Anwendung von Biologika als subkutane Spritzen/Pens durch und können die Patientinnen und Patienten mit ihrem Wissen über Nebenwirkungen und Vorsichtsmaßnahmen bei der Therapie sowie über begleitenden Maßnahmen wie Ernährung und Life-Style sehr gut beraten. Bei Unklarheiten erfolgt der Austausch mit den zuständigen Ärztinnen und Ärzten oder es werden kurzfristige Kontrollen für die Patientinnen und Patienten vereinbart.

Uns ist es ein großes Anliegen, die Kompetenzen des Pflegepersonals im Bereich der Autoimmunerkrankungen zu stärken. Am 16.06.2021 findet unsere 3. Nurse Academy am Autoimmunzentrum für Pflegepersonal und Gesundheitsberufe statt. Zudem laden wir zum 3. Autoimmunsymposium am 02.10.2021. Beide Veranstaltungen werden, je nachdem wie sich die Corona-Lage entwickelt, vollständig online oder auch mit einer Präsenzkomponente stattfinden.

Autoimmunzentrum

Infos zur Impfung bzw. Covid-19 Impfung bei Autoimmunerkrankungen

Das österreichische Nationale Impfgremium gibt rund um das neuartige Sars-CoV-2 Virus bezüglich „Personen mit chronischen Erkrankungen, beeinträchtigtem Immunsystem oder immunsuppressiver Behandlung folgende Empfehlung“:

„Die bisher verfügbaren Impfstoffe gegen COVID-19, sowohl mRNA-Impfstoffe als auch der erste zugelassene Vektorimpfstoff, sind nur teilweise bei Personen mit beeinträchtigtem Immunsystem und/oder unter immunmodulierender oder immunsuppressiver Behandlung untersucht. Je nach Produkt liegen Daten zu Personen mit HIV (unter Therapie und mit CD4>500), stabilen Autoimmunerkrankungen, Krebserkrankungen (ohne laufende oder kürzlich Chemotherapie), Diabetes mellitus, kardiovaskulären und chronischen pulmonalen Erkrankungen vor, die keine Auffälligkeiten bezüglich Wirksamkeit und Verträglichkeit ergeben haben. Zu allen übrigen Krankheitsbildern gibt es noch keine Daten. Da es sich bei den mRNA-Impfstoffen um Impfstoffe handelt, die wie inaktivierte Impfstoffe zu beurteilen sind, sind zunächst die Grundregeln für die Verwendung von inaktivierten Impfstoffen bei den jeweiligen Personengruppen und Medikationen anwendbar.

Dies gilt auch für den zugelassenen Vektorimpfstoff der Firma AstraZeneca. Da sich hier das Trägervirus nicht vermehren kann, sind die Eigenschaften solcher Impfstoffe bei immunsupprimierten oder chronisch kranken Personen vergleichbar mit inaktivierten Vakzinen zu bewerten, d.h. es geht von ihnen auch bei Immunsuppression keine Gefahr für den Impfling aus und es gelten die gleichen Anwendungsregeln wie bei inaktivierten Impfstoffen (z.B. mRNA-Impfstoffe). Auch bei diesen Impfstoffen ist, obwohl es sich um DNA-Trägerviren handelt, ein Einbau in das menschliche Genom mit Sicherheit auszuschließen, da die Virus-DNA nur extrachromosomal abgelesen wird. Details zur Impfung bei Immunsuppression siehe unter: https://link.springer.com/article/10.1007/s00103-019-02905-1 Prinzipiell gilt, dass eine immunmodulierende Therapie nicht zugunsten einer Impfung unterbrochen werden sollte. Im Falle eines therapeutischen Fensters sollte dieses unter Befolgung der Regeln für die jeweilige Medikation (siehe unter obigem link) genutzt werden. Bei Impfung von Personen mit Grundkrankheiten sollten im Einzelnen noch mehrere Punkte im ärztlichen Gespräch abgehandelt werden und so im Konsens eine individuelle Impfentscheidung getroffen werden.“

Autoimmunerkrankungen ganz generell (z. B. Myasthenia gravis, Multiple Sklerose) oder chronisch-entzündliche Erkrankungen (z. B. Rheumatoide Arthritis, chronisch entzündliche Darmerkrankungen) stellen laut dem deutschen Robert Koch Institut (RKI) grundsätzlich keine Kontraindikation für Schutzimpfungen dar. Studien konnten bisher keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen einer Impfung und einer neu aufgetretenen Autoimmunkrankheit bzw. einer chronisch-entzündlichen Erkrankung oder einem Schub einer bereits bestehenden Erkrankung belegen.

Impfpräventable Infektionen können dagegen bei nicht-geimpften Personen mit Autoimmunkrankheiten oder chronisch-entzündlichen Erkrankungen Morbidität und Mortalität erhöhen und z. B. einen Schub auslösen. Auch haben diese Personen durch die Grunderkrankung und/oder deren Therapie ein erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf. Impfungen können somit das Risiko für symptomatische Erkrankungen durch die jeweiligen Erreger und für infektionsgetriggerte Schübe der Grunderkrankung verringern.

Grundsätzlich muss hinsichtlich der Impfindikation zwischen Erkrankungsverläufen mit und ohne immunsuppressive Therapie unterschieden werden.

Totimpfstoffe können bei diesen Personen unabhängig von einer immunsuppressiven Therapie angewendet werden. Lebendimpfstoffe können ohne oder bis 4 Wochen vor Beginn einer immunsuppressiven Therapie regulär gegeben werden. Eine Ausnahme stellt die Myasthenia gravis dar, bei der die Gelbfieberimpfung immer kontraindiziert ist [1]. Da Lebendimpfstoffe potentiell vermehrungsfähige Impfviren enthalten und unter immunsuppressiver Therapie eine Erkrankung und/oder schwere bis tödliche Komplikationen hervorrufen können, ist ihre Anwendung unter immunsuppressiver Therapie kontraindiziert.

Ausführliche Hinweise für die Impfung von Patienten mit Autoimmunerkrankungen, chronisch–entzündlichen Erkrankungen bzw. unter immunsuppressiver Therapie finden sich in Papier IV-Impfen bei Immundefizienz (Wagner et al., 2019) und Papier III-Impfen bei Immundefizienz (Laws et al., 2020) und Mitteilungen der STIKO zu Immundefizienz.

Literatur:

1. Barwick Eidex, 2004, History of thymoma and yellow fever vaccination

Marija Geroldinger-Simić
Marija Geroldinger-Simić ist Dermatologin und Immunologin am Ordensklinikum Linz Elisabethinen.
©Ordensklinikum