„Besondere Schwierigkeiten hat die Beantwortung der Frage gemacht, von welchen Theilen des Körpers eigentlich die Action ausgeht, welcher Theil thätig, welcher leidend ist (..). Es handelt sich bei dieser Anwendung der Histologie auf Physiologie und Pathologie zunächst um die Anerkennung, dass die Zelle wirklich das letzte eigentliche Form-Element aller lebendigen Erscheinung sei, und dass wir die eigentliche Action nicht über die Zelle hinausverlegen dürfen.“
Dieser Satz stammt aus Virchows erster Berliner Vorlesung anno 1958 namens „Die Cellularpathologie“, nachdem er zwei Jahre vorher triumphal dorthin zurückgekehrt war. Denn in Berlin wollte man ihn zwischenzeitlich wegen seiner politischen Einstellung (liberal und märzrevolutionär gesinnt) nicht mehr haben.
Und dieser Satz ist sozusagen Virchows wichtigste Idee in a nutshell. Denn dass Lebewesen aus Zellen, aus allerkleinsten Bestandteilen, zusammengesetzt sind, war Mitte des 19. Jahrhunderts alles andere als gängige Theorie. Omnis cellula e cellula (Jede Zelle entsteht aus einer Zelle) heißt der dazugehörige Grundsatz von Virchow, den vermutlich jeder Medizinstudierende schon einmal gehört hat. Aber von vorne.
Berlins Bürokratie verweigert
Der 1921 im hinterpommerschen Städtchen Schievelbein geborene Rudolf Ludwig Carl Virchow hatte Mitte der 1840er Jahre schon seinen steilen akademischen Aufstieg begonnen. In Berlin galt er als Vordenker und Pionier und hielt schon mit 26 Jahren Privatvorlesungen an der Charité. Leukämie, Thrombose oder Embolie sind zum Beispiel Begriffe, die Virchow während dieser Zeit geprägt hat. Parallel dazu publizierte er das Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medicin, das noch heute als „Virchows Archiv“ existiert. Virchow war aber auch immer ein politischer Kopf, ein Liberaler früher Stunde.
Er machte sich für die Ideen der so genannten Märzrevolution von 1848 stark, die mehr bürgerliche Freiheiten und demokratisches Mitspracherecht im damaligen Deutschen Bund wollte. Damit wurde er rasch untragbar für die Berliner Bürokratie und ging ins bayrische Würzburg, um dort Ordinarius für Pathologische Anatomie zu werden. Eine wissenschaftlich extrem produktive Zeit begann, deren Erkenntnisse Grundlage für viele von Virchows bekanntesten Theorien wurden. Dazu zählten etwa neuropathologische Einsichten oder Neuerungen rund um die Behandlung des Gebärmutterhalskrebses. Auch Virchows „Cellularpathologie“ fand dort ihren Ausgangspunkt.
Die Zelle als kleinste lebende Einheit des Organismus galt nun als Grundlage allen ärztlichen Denkens und Handelns und war für ihn im Guten wie im Schlechten, im Kranken wie Gesunden, das Fundament. Zudem war die Zellpathologie eine wissenschaftliche Klammer für den enormen Wissenszuwachs im 19. Jahrhundert, der die Medizin in viele unterschiedliche Fachrichtungen und Einzeldisziplinen aufsplitterte. 1856 kehrte er nach Berlin zurück, an seinen alten Posten, und baute dort zusätzlich als Professor der Pathologie und Therapie das neu geschaffene Ordinariat für Pathologie auf dem Gelände der Charité auf. Eine prestigeträchtige Stellung in der Stadt, in der er bis zum seinem Tod arbeiten und leben sollte, ab 1892 auch als Rektor der hiesigen Universität.
Virchow war außerdem jemand, der sich und seine Ideen bestens zu vermarkten wusste: „Das heute vertraute Bild sich ständig beschleunigender wissenschaftlicher ‚turns’ nahm damals seinen Anfang, und so konnte der damals gerade erst 24-jährige Virchow 1845 die bisherige Medizin für obsolet erklären und sich selbst als Bannerträger einer neuen, ‚naturwissenschaftlichen’ Medizin inszenieren,“ so Virchows Biograph Constantin Gotschler. „Publish or perish“, also das sinngemäße Publizieren oder Verschwinden und inoffizieller Leitspruch der heutigen Wissenschaftsgemeinde, war schon damals seine Devise.
Publish or perish anno 1850
„In einer so unmittelbar praktischen Wissenschaft, wie die Medicin, in einer Zeit so schnellen Wachsens der Erfahrungen, wie die unsrige, haben wir doppelt die Verpflichtung, unsere Kenntniss der Gesammtheit der Fachgenossen zugänglich zu machen. Wir wollen die Reform, und nicht die Revolution. Wir wollen das Alte conserviren und das Neue hinzufügen.“ Auch das ein Satz Virchows, der recht gut beschreibt, was diesen Mann als Arzt, Forscher und Lehrenden ausmachte. Er wollte nicht im stillen Kämmerlein publizieren, sondern seine Erkenntnisse flächendeckend verbreiten. Sein Verständnis von Wissenschaft war, sie zugänglich zu machen. Für das Fachpublikum ohnehin, aber auch für die medizinischen Laien.
Schon in jungen Jahren hatte Virchow außerdem ein aufmerksames Auge für gesellschaftliche Zustände und Problematiken. Und diese Zustände, also Armut, Hunger, Wohnungsnot, waren ganz eminent mit Krankheiten und Seuchen verbunden. „Aus seiner Überzeugung, dass naturwissenschaftliche Erkenntnis auch die gesellschaftlichen Verhältnisse einschließe, leitete Virchow zugleich ein politisches Mandat ab. Während der Revolution 1848/49 entwarf er die paternalistisch eingefärbte Utopie einer medizinischen Gelehrtenrepublik: Politik sei ‚Medizin im Großen’. Unter den Bedingungen des nach der gescheiterten Revolution entstehenden monarchischen Konstitutionalismus reduzierte er diesen Anspruch dann auf eine Form der Expertenherrschaft, die vor allem darauf setzte, politische Fragen in wissenschaftlich zu entscheidende Fragen zu überführen,“ fasst Constantin Gotschler Virchows Politverständnis zusammen. Medizin und Politik als untrennbare Einheit also. 1861 ist er konsequenterweise Mitbegründer der Deutschen Fortschrittspartei, für die er auch in den preußischen Landtag zieht. Einer seiner prominentesten politischen Gegner ist übrigens der konservative Otto von Bismarck, damals Preußens Ministerpräsident. Beinahe kommt es zum Duell, was Virchow aber mit Hinweis auf eine doch recht unzeitgemäße Form der Problemlösung ablehnt.
Bis zu seinem Lebensende bleibt Virchow ein Verfechter naturwissenschaftlicher Ansichten. Katholizismus, Religion ganz allgemein... all das sind Dinge, die für ihn irrational und daher nicht verhandelbar sind. Gleichzeitig ist er aber ein Kind seiner Zeit und tradiert zum Beispiel Geschlechterstereotypen wie dasjenige einer männlichen Wissenschaft.
Sein Ende war einem tragischen Unglück geschuldet: Zu Beginn des Jahres 1902, als 80-jähriger, war Virchow beim Sprung aus einer elektrischen Straßenbahn gestürzt und hatte sich einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen. Davon erholte er sich nicht mehr. Er starb am 5. September 1902. Gemeinsam mit Größen wie Robert Koch oder parallel in Wien Carl von Rokitansky prägte er die medizinischen Umbrüche seiner Zeit in unschätzbarem Ausmaß.
Die Cellularpathologie
Virchows Archiv