„Als die Dummheit die Forschung erschlug“ (Amalthea) beschäftigt sich mit Österreichs reicher Medizinhistorie gleichermaßen wie der Rolle heimischer Medizin im internationalen Spitzenfeld. Ideen, die damals verlacht wurden und heute gefeiert werden, Freunderlwirtschaft anno dazumal oder Intrigen, die so mancher Karriere ein jähes Ende setzten: All das wird detail- und kenntnisreich beleuchtet.
Zwischen Pioniergeist und wissenschaftlicher Ignoranz, Ablehnung und Bewunderung oszillierte die Atmosphäre in Wiens medizinischer Forscherlandschaft lange Zeit. Enormes Konkurrenzdenken war Usus, nicht zuletzt befeuert durch die ungewöhnliche Konstellation an der Medizinischen Universität. Fast 150 Jahre gab es dort für die wesentlichen klinischen Fächer nämlich zwei Kliniken, erst 1994 wurde dieses System aufgebrochen und verändert und „natürlich hat die dadurch entstandene Rivalität zum Fortschritt beigetragen, aber sie hat auch Probleme verursacht“, so der renommierte Herzchirurg Ernst Wolner im Vorwort des Buches.
Herausfordernde Arbeitsbedingungen sind nicht neu
Dessen Titel ist aktuell und historisch gleichermaßen zu verstehen. Gerade die Pandemie habe gezeigt, wie schwierig es sein kann, richtige Entscheidungen bei der Bekämpfung von Krankheiten zu treffen, so die Autorin. „Herausfordernde Arbeitsbedingungen in den Spitälern, finanzielle Belastungen aber auch ein teilweiser Kampf gegen die Politik machten die Pandemiebekämpfung nicht immer einfach. Solche Problematiken sind nicht neu und begleiteten Ärzt:innen bereits über Jahrhunderte. Viele Untersuchungsmethoden, Operationstechniken, Behandlungsmaßnahmen oder Gerätschaften, die heute aus der Medizin nicht mehr wegzudenken sind, wurden in ihren Anfängen verpönt, massiv kritisiert und teilweise kategorisch – nicht zuletzt auch aus finanziellen Gründen – abgelehnt.“ skizziert sie weiter. Viele Ärzt:innen ließen sich trotz allem aber glücklicherweise nicht davon abhalten, weiterzuforschen.
Dabei ist Wiens medizinische Hall of fame umfassend: Die Autorin widmet sich in ihrem Buch Granden wie Maria Theresias Leibarzt Gerard Van Swieten oder dem Dreigestirn der Zweiten Wiener Medizinischen Schule – Rokitansky, Skoda und Hebra. Mit derselben Akribie und einem feinem Gespür für Zwischentöne würdigt sie auch mittlerweile Vergessene wie den fast manisch forschenden Röntgenpionier Guido Holzknecht oder erzählt über die bahnbrechenden Arbeiten des ewigen Nobelpreisanwärters und Parkinson-Vordenkers Oleh Hornykiewicz an der Wiener Medizinuniversität. Auch der steinige Weg der Frauen in die Medizin wird explizit beleuchtet.
Wissenschaftsgeschichte, die noch heute prägt
Neben einer umfassenden und detaillierten Leisungsschau quer durch alle Disziplinen wird der Hintergrund beleuchtet, in welchem Klima all diese Innovationen und Ideen damals überhaupt erst entstehen konnten. Und welche Netzwerke deren Umsetzung erst ermöglicht haben – oder im Gegenzug vereitelt.
Zu den klassischen „Dummheiten“, die heute aus der Medizin nicht mehr wegzudenken sind, gehört so Einiges: „Das beginnt bei heute gängigen Untersuchungsmaßnahmen wie dem Blutdruckmessen, dem Pulsfühlen, dem Messen der Körpertemperatur genauso wie dem Abhorchen von Herz und Lunge. Ebenso schwierig war es, bildgebende Verfahren von der Röntgenologie bis hin zur Endoskopie durchzusetzen und Selbstversuche waren nötig, um Narkosewirkungen zu beweisen. Die Pathologie musste ebenfalls lange kämpfen, bis man erkannte, wie wichtig Obduktionen für die Erstellung von künftigen Diagnosen und sich daraus ergebenden Behandlungen sind. Lange brauchte es auch, bis Ignaz Semmelweisʾ Händedesinfektion anerkannt war.“ so Angetter-Pfeiffer. Die Behandlung psychisch Kranker war ebenfalls ein enorm schwieriger Weg, eine menschenwürdige Behandlung war lange keine Selbstverständlichkeit, nicht nur hierzulande.
Erzählt wird die dichte Materie unterhaltsam und leichtfüßig, dennoch strotzt das Buch vor fachlichen Informationen, die allerdings auch für den interessierten Laien lesenswert und verständlich heruntergebrochen werden. Das Buch wirft einen gleichermaßen präzisen wie unterhaltsamen Blick auf ein Stück Wissenschaftsgeschichte, das die Medizin noch heute prägt. Am Ende wagt die Autorin einen Ausblick auf die Medizin der Zukunft und verknüpft die heutige Gesundheitslandschaft in Österreich mit ihren Ursprüngen.
Die Autorin
Daniela Angetter-Pfeiffer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Österreichischen Biographischen Lexikon und verantwortlich für die Fachgebiete Medizin, Militär, Naturwissenschaften, Pädagogik und Sport. 2022 hat sie mit ihrem Buch „Pandemie sei Dank! Was Seuchen in Österreich bewegten“ den Preis für das beste Wissenschaftsbuch bekommen.
Studium der Geschichte und Deutsche Philologie in Wien; 1995 Dr. phil. Nach dem Unterrichtspraktikum für Lehramtskandidaten arbeitete sie 1996-2001 am Institut für Geschichte der Medizin der Universität Wien, schwerpunktmäßig zur Anatomie in der NS-Zeit. 2001 wechselte sie an das Institut Österreichisches Biographisches Lexikon. Seit 2012 ist sie Vorsitzende der Arbeitsgruppe für Geschichte der Erdwissenschaften in Österreich.
Ebenso ist sie Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe Geschichte der Medizin der Kommission für Geschichte und Philosophie der Wissenschaften der ÖAW zum Thema Strukturen und Netzwerke der Wiener Medizin 1848-1955.