Gendermedizin

Fehlende Gleichberechtigung schadet der Gesundheit

Im Unterschied zum rein biologischen Geschlecht beruht „Gender“ auf sozialen Faktoren. Gesellschaftliche Rollenbilder, ungleiche Entlohnung oder unbezahlte Care-Arbeit stehen im Verdacht, den Gesundheitsstatus ebenso zu beeinflussen wie biologische Unterschiede. Um diese Effekte erstmals messbar zu machen, entwickelte eine Wiener Forschungsgruppe gemeinsam mit internationalen Teams ein neues Analysetool.

red

Die Gendermedizin kann als eines der wichtigsten Forschungsfelder der kommenden Jahrzehnte betrachtet werden. Dabei wurde man erst in den 1980er-Jahren auf geschlechtsspezifische Unterschiede von Krankheiten aufmerksam. „Ein klassisches Beispiel sind Herzinfarkte, die sich bei Frauen anders äußern als bei Männern“, sagt Teresa Gisinger. Sie ist Ärztin und Teil der Forschungsgruppe um Alexandra Kautzky-Willer, die Leiterin der Gender Medicine Unit an der Medizinischen Universität Wien.

Zusätzlich zum biologischen Geschlecht interessiert die Forscherinnen, welchen Einfluss das soziale Geschlecht - also Gender - auf die Gesundheit hat. „Bei Gender handelt es sich um ein psychosoziales und soziokulturelles Konstrukt. Deshalb ist es besonders schwierig zu analysieren“, erklärt Kautzky-Willer. „Hinzu kommt, dass in medizinischen Studien Gender-assoziierte Parameter wie Genderidentität, Genderbeziehungen, Genderrollen und institutionalisiertes Gender bisher kaum erhoben werden, sodass uns die Daten für Analysen fehlen.“

Um Gendereinflüsse dennoch rückwirkend messbar zu machen, schlossen sich die Gruppe mit Kollegen aus Kanada, Italien, Schweden und Spanien zusammen. In der „Gender Outcomes & Well-being Development“-Gruppe, kurz GOING-FWD, setzten sie sich zum Ziel, die soziale Dimension von Geschlechtsunterschieden im Kontext mehrerer chronischer Erkrankungen zu untersuchen. Dabei stellte sich heraus, dass bei weiblichem Gender unter anderem ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen besteht. Außerdem finden Frauen sowie Personen mit weiblichem Gender - das kann auch Männer betreffen - schwerer Zugang zum Gesundheitssystem. Diese Ergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit, die medizinische Forschung und Versorgung stärker für Genderunterschiede zu sensibilisieren. Hierfür kann die neue Methode der GOING-FWD-Gruppe wichtige Erkenntnisse liefern.

Der Gender-Score als Messgröße

Als Grundlage für die groß angelegte Studie dienten vergangene Gesundheitsbefragungen aus den einzelnen Ländern mit insgesamt über 30 Millionen Teilnehmer. In diesen Datensätzen suchten Kautzky-Willer und Gisinger nach genderspezifischen Häufungen, die sich von jenen, die aus dem biologischen Geschlecht resultieren, unterscheiden. „Vor dem Projekt hat Louise Pilote von der McGill University in Kanada eine Methode entwickelt, mittels derer wir Gender in einem sogenannten Gender-Score messbar machen können“, sagt Kautzky-Willer. „Dazu identifizieren wir in einem Datensatz zunächst genderspezifische Faktoren, wie zum Beispiel: Wie ist der Anstellungsstatus der Person? Mit wie vielen Personen teilt sie sich den Haushalt? Wer verdient den Hauptteil des Einkommens? Und wer ist für die Hausarbeit verantwortlich?“ Aus diesen Elementen wird ein Gendermodell konstruiert, wobei die Zuordnungen der Faktoren zu einem eher weiblichen oder eher männlichen Gender rein aus den Daten entnommen werden.

„Statt von vornherein davon auszugehen, dass Frauen beispielsweise weniger Einkommen beziehen, wird mithilfe des biologischen Geschlechts ein Modell erstellt, aus dem wir derartige Assoziationen ablesen können. Erst im zweiten Schritt wird das biologische Geschlecht aus dem Modell entfernt, sodass diejenigen sozialen Faktoren überbleiben, die den Gender-Score ausmachen“, erläutert Gisinger das Prozedere. Ein eher weiblicher Gender-Score ist folglich mit den Charakteristika einer biologischen Frau assoziiert, kann aber auch von einem Mann erfüllt werden, der ein geringes Einkommen bezieht oder Care-Arbeit leistet. Damit weist das Modell bislang noch eine binäre Charakteristik auf, worin die Forscherinnen Ausbaupotenzial für künftige Analysen sehen. Dennoch gelang es, zentrale Erkenntnisse aus der ersten Studie dieser Art und Größe zu gewinnen.

Schlechtere Herzgesundheit, weniger Blutzuckermanagement

„Aus dem Projekt sind insgesamt über 50 Publikationen entstanden“, berichtet Kautzky-Willer. Untersucht wurde der Gendereinfluss auf kardiovaskuläre und neurologische Erkrankungen sowie Stoffwechselerkrankungen, chronische Nierenerkrankungen und - aufgrund des Pandemieausbruchs während der Studienlaufzeit - auch Covid-19 als einzige akute, infektiöse Erkrankung.

Kautzky-Willer und Gisinger waren an einer Vielzahl der Resultate maßgeblich beteiligt, unter anderem an den Untersuchungen zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Hierfür analysierten sie das kardiovaskuläre Risikoprofil von Frauen und Männern (nach dem biologischen Geschlecht) und berücksichtigten dabei Faktoren wie etwa Rauchen, Bewegungsmangel, erhöhtes Gewicht und Bluthochdruck. „Es stellte sich heraus, dass Frauen ein besseres Risikofaktorprofil aufweisen und weniger oft Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben. Wenn wir aber unabhängig vom biologischen Geschlecht den Gender-Score abfragten, dann zeigte sich bei weiblichem Gender eine schlechtere Herzgesundheit“, sagt Kautzky-Willer. Die Ergebnisse verdeutlichten somit den starken Einfluss von soziokulturellen Geschlechteraspekten auf diese Erkrankungsgruppe. „Besonders interessant ist das, weil Frauen aufgrund ihres höheren Östrogenspiegels besser vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen geschützt sind. Unsere Ergebnisse zeigen daher: Obwohl Frauen biologische Vorteile hätten, spielt ein weibliches Gender bei der Entstehung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen eine größere Rolle“, so Gisinger.

In einer weiteren Publikation widmete sich die Forschungsgruppe dem Einfluss von Gender auf die Prognose von Diabetes mellitus und den Zugang zu Versorgungsstrukturen. Die Studie zeigte, dass Diabetes-Patient:innen mit weiblichem Gender seltener HbA1c-Messungen erhalten - ein Parameter, der die Effektivität der Blutzuckereinstellung anzeigt und deshalb als Kontrollwerkzeug herangezogen wird. Österreich schnitt hier im direkten Vergleich mit Kanada schlechter ab, obwohl sich die Länder in ihren sozialen Strukturen und dem Ranking nach dem Gender-Inequality-Index der Vereinten Nationen ähneln. Innerhalb Europas verschlechterte sich die medizinische Versorgung von Personen mit weiblichem Gender mit steigendem Gender-Inequality-Index.

Zwischen Medizin, Forschung und Politik

„Für uns Kliniker:innen ist in erster Linie wichtig, dass wir über die Genderunterschiede Bescheid wissen und dementsprechend handeln können“, so Gisinger. Außerdem seien die Ergebnisse der Studie auch ein Weckruf für die medizinische Forschung, Gender-assoziierte Parameter künftig in Studien zu erheben und aufzuschlüsseln. „Letztlich lassen sich daraus aber auch wichtige gesellschaftspolitische Forderungen ableiten“, ergänzt Kautzky-Willer. „Während die Biologie nur in geringem Grad veränderbar ist, lässt sich der Gender-Score sehr wohl beeinflussen. Dort, wo es um die Ungleichbehandlung und gesundheitliche Benachteiligung einer Gruppe von Menschen geht, können und müssen wir Geschlechterrollen ändern.“ Dafür brauche es Maßnahmen zur Reduktion von Genderunterschieden und zum Abbau von Rollenbildern. Auch die Förderung von Projekten aus der Gendermedizin und Angebote zur Aus- und Weiterbildung im Gesundheitswesen wären essenzielle Schritte. „Der Gendermedizin wird zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt und wir sollten zusehen, dass wir am Ball bleiben“, appelliert Gisinger.

Studie

Schreibmaschine
Eine Wiener Forschungsgruppe entwickelte gemeinsam mit internationalen Teams ein neues Analysetool zum Thema Gendermedizin.
Unsplash