Klimaneutrale Zukunft

Von der Leyen geht beim Klimaschutz auf Industrie zu

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen will Europas Wirtschaft fit für eine klimaneutrale Zukunft machen und vor der Konkurrenz aus China schützen. Mit Blick vor allem auf die Ukraine appellierte sie dann sehr deutlich für eine EU-Erweiterung. Die Kommissionschefin hielt am Mittwochvormittag ihre vierte und womöglich letzte Rede zur Lage der Europäischen Union im EU-Parlament in Straßburg.

red/Agenturen

Vor den EU-Abgeordneten unterstrich sie die Wichtigkeit des europäischen Green Deals - ein Leuchtturmprojekt ihres Mandats. Die EU-Kommission bleibe bezüglich des Green Deal „auf Kurs“. Von der Leyen setzte den Fokus dabei auf Maßnahmen, die der Industrie helfen sollen, die Klimavorgaben umzusetzen und dabei wettbewerbsfähig zu bleiben: „Wir haben die Klima-Agenda zu einer wirtschaftlichen Agenda weiterentwickelt.“

Sie kündigte zudem eine Untersuchung zu unlauterem Wettbewerb bei Elektroautos aus China an. Die E-Mobilität sei eine entscheidende Industrie für eine „saubere Wirtschaft“. Die Weltmärkte würden nun aber von billigen chinesischen E-Autos „überschwemmt“, deren Preis durch staatliche Subventionen gedrückt werde. Mit der Ankündigung dürfte sie laut Medienberichten einem Wunsch des französischen Präsidenten Emmanuel Macron nachgekommen sein.

Weiters werde die Kommission ein „Paket für die Windkraft in Europa“ vorlegen. So sollen Genehmigungsverfahren beschleunigt und Auktionssysteme „in der gesamten EU“ verbessert werden. Der starke Fokus auf Wirtschaftsaspekte des Klimaschutzes kann wohl auch als Zugeständnis auf von der Leyens eigene konservative EVP-Fraktion im EU-Parlament verstanden werden. Diese hatte zuletzt beim Klimaschutz gebremst und gefordert, dass die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft stärker beachtet wird.

„Ein Planet, der kocht“

Die Kommissionschefin unterstrich in ihrer Rede aber auch die Wichtigkeit, die Wirtschaft zu dekarbonisieren. Sie verwies auf Hitzewellen in ganz Europa, sowie Waldbrände und Überschwemmungen in Griechenland und Spanien. „Dies ist die Realität eines Planeten, der kocht“, so ihr Appell.

Ein deutliches Plädoyer gab es auch mit Blick auf die Ukraine. Die Zukunft der Ukraine liege in der Europäischen Union, so von der Leyen. Das gleiche gelte auch für den Westbalkan und Moldau. Der Weg in die EU werde aber nicht leicht sein. „Ein Beitritt beruht auf Leistung, und die Kommission wird diesen Grundsatz stets verteidigen“, sagte sie. Die Ukraine habe aber bereits große Fortschritte gemacht, seit dem Land der Kandidatenstatus verliehen wurde. Die EU werde der Ukraine auch „so lange wie nötig“ zur Seite stehen. Ukrainerinnen und Ukrainer, die ihr Land wegen des Krieges verlassen haben, seien nach wie vor genauso willkommen wie zu Beginn des Krieges. Die EU-Kommission werde daher eine Verlängerung des vorübergehenden Schutzstatus von Flüchtenden aus der Ukraine sowie die Bewilligung von weiteren 50 Milliarden Euro für Investitionen und Reformen in der Ukraine vorschlagen.

Die Kommissionschefin trat auch Bedanken entgegen, dass eine Erweiterung der EU deren Handlungsfähigkeit einschränken könnte. „27 von uns haben sich auf NextGenerationEU geeinigt. 27 von uns haben vereinbart, Impfstoffe zu kaufen. Wir haben in Rekordzeit Sanktionen vereinbart - ebenfalls 27 von uns“. Europa werde auch mit mehr als 30 Staaten funktionieren. Die Europäische Union müsse aber auch nach innen reformiert werden - falls nötig „durch einen Europäischen Konvent und eine Änderung der Verträge“. Eine Erweiterung um weitere Staaten könne aber nicht auf so eine Strukturreform warten.

Ohne das Land beim Namen zu nennen, gab es einen Seitenhieb in Richtung Österreich, das nach wie vor einen Schengen-Beitritt von Bulgarien und Rumänien blockiert: Die Kommissionspräsidentin forderte einen Schengen-Beitritt der beiden Länder „ohne weiteren Verzug“.

Von der Leyen fordert Einigung bei Migrationspolitik

Immer mehr Menschen würden durch Kriege, den Klimawandel und politische Instabilität aus ihrer Heimat vertrieben. Die Kommissionschefin appellierte in dem Kontext an das Europäische Parlament und den Europäischen Rat, bei der Reform der EU-Migrations- und Asylpolitik zu einer Einigung zu kommen. „Zeigen wir, dass Europa die Migration effizient und zugleich humanitär steuern kann.“ Noch nie sei man einem Abschluss der Verhandlungen zum EU-Migrationspakt so nah gewesen.

Um die drei großen wirtschaftlichen Herausforderungen dieser Zeit - den Arbeitskräftemangel, die Wettbewerbsfähigkeit und die Rahmenbedingungen für Europas Unternehmen anzugehen - schlug von der Leyen mehrere Initiativen vor. Sie habe den ehemaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi gebeten, einen Bericht über die Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit zu erstellen. Um den Arbeitsmarkt fit für die Zukunft zu machen, und den Fach- und Arbeitskräftemangel zu bekämpfen, will die Kommission im kommenden Jahr gemeinsam mit der belgischen Präsidentschaft erneut einen Gipfel mit den Sozialpartnern in Val Duchesse einberufen.

Für die Wettbewerbsfähigkeit sind auch kritische Rohstoffe und der effiziente Einsatz der Künstlichen Intelligenz höchst relevant. „Aus diesem Grund werden wir noch in diesem Jahr das erste Treffen unseres neuen Clubs für kritische Rohstoffe einberufen“, betonte von der Leyen. Gleichzeitig werde die Kommission auch weiterhin einen offenen und fairen Handel vorantreiben. Auch die Zusammenarbeit mit Afrika soll verstärkt werden. Deshalb werde die Brüsseler Behörde zusammen mit dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell ein neues Strategiekonzept für den nächsten EU-AU-Gipfel vorlegen.

Die Künstliche Intelligenz (KI) kann laut von der Leyen einiges verbessern. „Doch sollten wir auch die durchaus realen Gefahren nicht unterschätzen“, warnte sie: „Unsere oberste Priorität ist es, sicherzustellen, dass sich die KI auf eine menschenzentrierte, transparente und verantwortungsvolle Weise entwickelt.“ Wichtig seien hier Supercomputer: „Deshalb kann ich heute eine neue Initiative ankündigen, KI-Start-ups unsere Hochleistungscomputer zur Verfügung zu stellen, um ihre Geschäftsmodelle zu erproben.“

Kocher äußert sich lobend

Die an die Rede anschließende Debatte mit den EU-Abgeordneten und weitere Reaktionen waren von Kritik und Zustimmung gekennzeichnet. Weitgehend lobend äußerte sich Österreichs Wirtschaftsminister Martin Kocher (ÖVP), der in einer Aussendung beschleunigte Verhandlungen zum von der Kommission im Frühjahr vorgestellten Net-Zero Industry Act forderte. „Das ist einerseits wichtig, um auf den US-amerikanischen Inflation Reduction Act zu reagieren, andererseits müssen wir aber auch unabhängig davon den Ausbau der für die grüne und digitale Transformation strategisch wichtigen Technologien noch schneller vorantreiben.“

Zurückhaltender gab sich Kochers Regierungskollege und Innenminister Gerhard Karner (ÖVP). Der Kampf gegen irreguläre Migration und Schlepper müsse eine Priorität der Kommission sein. Ihm zufolge steigen aktuell die Migrationszahlen in Europa: „Zu so einem Zeitpunkt macht es für mich daher keinen Sinn, über eine Erweiterung des Schengenraums zu sprechen. Wir brauchen mehr und nicht weniger Kontrollen“, so Karner.

„Es lohnt sich, für die Zukunft unseres gemeinsamen Europas und unsere Werte zu kämpfen. Die Herausforderungen - angefangen vom russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine mit all seinen Auswirkungen über die Klimakrise bis hin zur illegalen Migration und der Wettbewerbsfähigkeit - sind größer geworden. Die EU hat in den letzten Jahren bewiesen, dass sie an Herausforderungen wachsen und ein mutiges und geeintes Europa diese Herausforderungen auch bestehen kann. Nichtsdestotrotz sind viele wichtige Fragen ungelöst, die wir dringend angehen müssen“, betonte Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) in einer Aussendung.

Othmar Karas: „Mutiges Bekenntnis“

Der spanische Außenminister Jose Manuel Albares Bueno betonte als Vertreter der spanischen Ratspräsidentschaft den „Einklang der Prioritäten“ und den Willen zur „Zusammenarbeit für ein stärkeres Europa“. Auch für Othmar Karas (ÖVP), Erster Vizepräsident des Europäischen Parlaments, war die Rede „ein selbstbewusstes und mutiges Bekenntnis für eine zukunftsfitte Union“, erklärte er auf Twitter (X). Sein Parteikollege, EVP-Vorsitzender Manfred Weber, appellierte in seiner Wortmeldung für eine „europäische Verteidigungsunion“. Er betonte den Glauben seiner Partei an den Green Deal - aber auch die Unternehmen müssten Gehör finden.

Als Gewerkschafterin begrüße sie sehr, dass von der Leyen einen Sozialpartnergipfel abhalten wolle, erklärte Parlamentsvizepräsidentin Evelyn Regner (SPÖ) auf Twitter (X). Damit bestätige sie, wie essenziell die Sozialpartnerschaft für die EU-Gesetzgebung sei. Harald Vilimsky, freiheitlicher Delegationsleiter im Europaparlament, sieht die „EU in einem erbärmlichen Zustand. Doch von der Leyens Universum kreist vor allem um sie selbst.“

„Was die Kommissionspräsidentin vollständig ausgeklammert hat, ist die soziale Frage, die aber angesichts der Teuerung und steigenden Armutsgefährdung eine der größten Baustellen der EU ist. Es braucht endlich eine Sozialunion mit europaweiten Mindesteinkommen und einem Care Deal zum Ausbau sozialer Infrastruktur“, zeigte sich auch Monika Vana, Delegationsleiterin der österreichischen Grünen, kritisch. Auch Caritas Europa-Generalsekretärin Maria Nyman betonte: „Die Präsidentin betonte zwar die Bedeutung des Schutzes von Arbeitsplätzen, aber es bedarf vieler zusätzlicher Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut. Wir fordern eine Rahmenrichtlinie zum Mindesteinkommen, die wirtschaftliche Sicherheit und Würde für alle ermöglicht.“

Massive Kritik an Von der Leyens Politik

Kritik kam auch von Seiten der Umwelt- und Tierschutzorganisationen: „Ein großer Teil unseres Kontinents hat den Sommer über entweder unter Bränden oder Überschwemmungen oder unter beidem gelitten. Von der Leyens Politik verurteilt uns zu weiteren Umweltkatastrophen“, kritisierte Greenpeace-EU-Direktor Jorgo Riss. VIER PFOTEN betonte in einer Aussendung, in ihrer Rede habe von der Leyen die längst überfälligen ambitionierten Vorhaben der Union zur Verbesserung des Tierwohls völlig ausgeklammert. Die Kommission sei vor der mächtigen Agrarlobby eingeknickt, so Direktorin Eva Rosenberg.