Science Talk zur Koexistenz Mensch und Natur: Braucht mehr Mut zum „Wildermachen“

Wie viel Raum braucht die Wildnis? Diese Frage stand im Zentrum bei dem am Montagabend abgehaltenen Sciences Talk zur „Koexistenz Mensch und Natur aus wissenschaftlicher Sicht" vom Bildungsministerium. Die geladenen Experten der Runde sprachen sich für mehr Biodiversität und Artenschutz aus - und „mehr Mut zum Wildermachen".

red/Agenturen

Die in Österreich viel thematisierte Bodenversiegelung und damit das "Zubetonieren grüner Flächen“ war Ausgangspunkt für die Diskussion: "11 Hektar pro Tag ist derzeit das dreijährige Mittel“, sagte Alois Humer vom Institut für Geographie und Regionalforschung an der Universität Wien: "Und wenn wir es mit dem Umweltbundesamt halten, das die offizielle Statistik dazu führt, dann ist das natürlich viel zu viel. Seit den Nullerjahren sind 2,5 Hektar pro Tag als Ziel festgelegt. Davon sind wir weit weg."

Österreich hat das zweitdichteste Autobahnnetz in Europa. Die Klimaziele scheinen immer mehr in die Ferne zu rücken. Weil wir Menschen immer mehr Raum für uns beanspruchen, wird es für viele Arten eng. Beinahe jede fünfte Art ist weltweit bedroht. Das hat Folgen für Mensch und Wildnis, waren sich die Experten einig.

„Es ist wichtig, dass wir Arten schützen, auch Arten, die uns vielleicht unwichtig erscheinen, und dass wir verstehen, dass sie für das Ökosystem wichtig sind“, betonte Claudia Bieber vom Forschungsinstitut für Wildtierkunde und Ökologie an der Veterinärmedizinischen Universität Wien. Den Begriff "Koexistenz“ sah die Expertin in diesem Zusammenhang kritisch: "Denn Koexistenz heißt: Wir leben friedlich nebeneinander“, so Bieber. Menschen seien ein Teil der Natur und "wenn wir die Natur schwächen, dann schwächen wir uns".

Mehr Mut zur Wildnis

Jeder verstehe etwas anderes unter Wildnis, aber sie sei notwendig für ein funktionierendes Ökosystem: "Wenn wir fachspezifisch rangehen, dann würde man sagen, es ist ein unberührter Lebensraum, und davon haben wir in Österreich sehr, sehr wenig“, sagte Bieber. "Man kann aber auch schon sagen, der Garten ist Wildnis. Hier würde ich Mut machen, dass wir versuchen, diese Areale wilder zu machen. Ein Balkonkasten kann ein Beitrag sein."

Der Mensch hat in Europa eine Kulturlandschaft geschaffen. Hier scheint die unkontrollierte Wildnis nicht immer ins Lebenskonzept zu passen: "Zwei Prozent der Landesfläche sollten Wildnis-Gebiete sein, aber de facto haben wir derzeit 0,04 Prozent“, sagte Klaus Hackländer vom Institut für Wildbiologie und Jagdwirtschaft an der Universität für Bodenkultur (Boku) Wien. "Aber es gibt noch sehr viel Potenzial, gerade im Hochgebirge, wo wir ohnehin nichts nutzen können. Das heißt, wir könnten noch mehr Wildnis schaffen."

In der Raumordnung und Stadtplanung, betonte Geograf Humer, mache man sich schon daran, "zumindest im Kleinen, wieder für mehr Wildnis zu sorgen. Beispielsweise hat man sich bei der Entwicklung des Wiener Nordwestbahnhofs dafür entschieden, bewusst mehr Stockwerke zu bauen, um weniger Fläche versiegeln zu müssen.

Der "böse“ Wolf: Ein Gewinner in der Kulturlandschaft

Es gibt viele Arten, die darunter leiden, dass der Mensch seine Kulturlandschaft zu intensiv nutzt, etwa der Kiebitz, der Feldhamster und das Rebhuhn. Aber einige Arten können mit dem Menschen ganz gut koexistieren, wie die Straßentaube, der Steinmarder oder der Rotfuchs. Der Wolf, der sich derzeit wieder in Österreich etabliert, zähle zu den "Gewinnern unserer Kulturlandschaft“, so Hackländer, weil er sehr anpassungsfähig sei.

"Der Wolf ist eine Projektionsfläche für das große Übel, er wird zum Symbol für Wildnis“, sagte der Experte. Man müsse aber rational an die Sache rangehen. In einer Kulturlandschaft, die man nutzen wolle, brauche es ein Wildtiermanagement. "Wie mit anderen Arten auch, ist es wichtig, dass man eine Balance findet."

Hoffnung ja, aber getrübt

Am Ende blickte man an diesem Abend skeptisch in die Zukunft. In der Raumordnung ist die Hoffnung, dass die Talsohle in Österreich in den 1970er und 1980er Jahren bereits durchschritten wurde. "Alles, was man jetzt an guten Schritten setzt, wird auch Jahrzehnte und vielleicht Jahrhunderte Bestand haben“, so Humer. "Das Biodiversitätspotenzial von Städten ist bei weitem noch nicht ausgeschöpft, und die Stadt Wien bemüht sich in einem neuen Stadtentwicklungsplan, das Thema stärker anzugehen."

Etwas mutloser zeigte sich Hackländer: "Ich bin sehr pessimistisch“, so der Forscher: "Eine größere Ressourceneffizienz würde uns guttun.“ Also etwa nicht so viel Energie zu verbrauchen, nicht so viel Fleisch zu essen, nicht so viele Lebensmittel wegzuwerfe: "Wir werden als Mensch nicht untergehen, aber die Lebensqualität wird deutlich sinken."

„Wir müssen was machen, wir können nicht so weiter bauen“, betonte auch Bieber. Unser Planet hätte schließlich schon fünf Massensterben gesehen. Auch ein sechstes werde es geben: "Meine Hoffnung ist, dass die Evolution noch größer ist. Ob die Menschen davon noch ein Teil sein werden, das wird sich zeigen."