„Biologie zuerst!“

Wiener Prothesenforscher betont Wert des Körpers

„Ein Liebeslied auf den Körper“ hat der plastische Chirurg und Wiener Forscher Oskar Aszmann am Montagabend in Wien vorgetragen. Trotz beachtlicher Fortschritte bei der Entwicklung von bionischen Hightech-Prothesen, also solchen, die durch Gehirnaktivität gesteuert werden, darf der Wert des menschlichen Körpers nicht vergessen werden. Denn der behält laut Aszmann im Vergleich mit jedem technologischen Ersatz die Oberhand.

red/Agenturen

Der erwachsene Körper besteht aus 100 Billionen Zellen, von denen 70 Milliarden täglich absterben und rekonstruiert werden. Und: „In jeder Einzelnen ist das Ich zuhause“, erklärte Aszmann, der das „Christian Doppler Labor für Wiederherstellung von Extremitätenfunktion“ an der Medizinischen Universität Wien leitet und seinen Vortrag am Forschungszentrum für Molekulare Medizin (CeMM) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) hielt.

Technisch ist es mittlerweile möglich, Gehirnaktivität mithilfe von Muskeln zu einem binären Code zu „übersetzen“, der die Bewegung komplexer mechatronischer Prothesen steuert. Die Amputation einer Gliedmaße ist für Patient:innen trotzdem ein irreversibler Verlust, nicht nur des jeweiligen Körperteils, sondern auch von „zellulärem und expressivem Potenzial“, meinte der Wissenschafter. Vor allem die Hände hätten ungemeines Ausdruckspotenzial, als Beispiel dafür führte er Bachs „Goldberg-Variationen“, gespielt von dem berühmten Pianisten Glenn Gould, an.

Für ihn persönlich sei der Umstand, dass Bewegung ein sensorisches Phänomen ist, eine der größten Erkenntnisse seiner Forschung gewesen, erklärte der Wissenschafter der APA. Im Studium habe er immer gedacht, Bewegung brauche ein unglaubliches Netzwerk von efferenten Nervenfasern, also solchen, die vom Gehirn in die Periphere führen. Aber mit relativ wenigen Efferenten und entsprechend relativ wenigen Signalen könne die Hand sehr komplexe Bewegungen ausführen. Das funktioniert, weil das Gehirn von viel mehr Afferenten, also für das Fühlen verantwortlichen Fasern, „gefüttert“ wird.

Glenn Gould als Beispiel

„Einer der ersten Lehrer von Glenn Gould hat ihm beigebracht, er soll Klavierspielen, als würden die Tasten an seinen Fingern kleben. Das Loslassen der Tasten, ein sensorisches Phänomen, ist wichtiger als das Anschlagen. Wir lassen uns von den Objekten, die wir manipulieren, beeinflussen, so wie Glenn Gould seine Tasten loslässt“, so Aszmann. Die Sprache, die Muskeln und Nerven bei dieser Interaktion miteinander sprechen, sei sehr viel komplexer als jene, die die modernste Prothese verstehen könne. Demnach gilt für Aszmann immer: „Biologie zuerst - Technologie danach, wenn das notwendig ist“. „Cyborgs“, also der Ersatz körperlicher Funktionen oder die Verbesserung menschlicher Inkompetenzen durch technologische Mittel, ohne dass diese als fremd wahrgenommen werden, bleiben dementsprechend „eine Unmöglichkeit“.

Aszmann plädierte zu guter Letzt dafür, das körperliche Fühlen stärker wertzuschätzen: „Wir durchdringen den Körper und der Körper durchdringt uns“, eine Trennung von Körper und Bewusstsein wäre „dystopisch“.