EuGH-Gutachten

Kindeswohl kann Auslieferung stoppen

Einem Gutachten am Europäischen Gerichtshof (EuGH) zufolge kann eine Behörde die Auslieferung einer Mutter mit kleinen Kindern an ein anderes EU-Land ablehnen, wenn das dem Kindeswohl entspricht. Das sei aber nur dann möglich, wenn die Behörde trotz Anfrage nicht absolut sicher sein könne, dass das Kindeswohl nicht gefährdet sei, erklärte die zuständige Generalanwältin Tamara Capeta am Donnerstag in Luxemburg. (Az. C-261/22)

red/Agenturen

Es ging um einen Fall aus Belgien und Italien. In Belgien wurde ein Europäischer Haftbefehl gegen eine Frau ausgestellt, die eine fünfjährige Haftstrafe absitzen sollte. Einige Monate später wurde sie in Italien verhaftet. Ihr Sohn, ein Kleinkind, lebte bei ihr. Damit das Kind bei der Mutter bleiben konnte, wurde die Haft durch Hausarrest ersetzt.

Das Berufungsgericht in Bologna bat die belgische Justizbehörde um Informationen zu Strafvollstreckung in Belgien gegen Mütter, die mit minderjährigen Kindern zusammenleben. Da keine Antwort kam, lehnte es die Auslieferung der Frau ab und ordnete ihre Freilassung an. Die Generalstaatsanwaltschaft wandte sich an den italienischen Kassationsgerichtshof. Dieser setzte das Verfahren aus und fragte den EuGH, ob die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in solchen Fällen abgelehnt oder ausgesetzt werden kann.

Die Generalanwältin betonte nun, dass der Mechanismus des Europäischen Haftbefehls auf der Vermutung beruhe, dass die Mitgliedsstaaten die Grundrechte beachten. Diese Vermutung könne nur dann in Frage gestellt werden, wenn die Behörde wisse, dass es in dem betreffenden Staat Probleme mit der Gewährleistung des Rechts auf Familienleben von Inhaftierten gebe. In dem Fall weise aber nichts darauf hin. Die Auslieferung der Frau könne nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dass möglicherweise ein Verstoß gegen das Recht auf Familienleben vorliege.

Bei Kindeswohl gehe es dagegen nicht um Vertrauen zwischen den einzelnen EU-Staaten, sondern es müsse festgestellt werden, was für ein bestimmtes Kind richtig sei. Eine Möglichkeit könne hier sein, die Strafe in Italien zu vollstrecken. Das juristische Gutachten, die sogenannten Schlussanträge, sind noch keine Entscheidung. Bei ihrem späteren Urteil orientieren sich die europäischen Richterinnen und Richter aber oft daran. Ein Termin für die Urteilsverkündung wurde noch nicht veröffentlicht.